Der Ring

Plötzlich bemerke ich es. Der Ring ist weg. Und damit meine Ruhe. Der schmale vergoldete Reif, der zusammen mit dem schmalen silbernen Reif auf meinem Finger sitzt. Seit vier Monaten. Ich habe sie beide auf Santa Maria gekauft, bei Catherine, der Amerikanerin, die dort wohnt und Schmuckstücke herstellt. Ihr Freund ist Shaper und Surfer. Zusammen suchen sie auch Plastikmüll am Strand und manchmal macht Catherine ein Schmuckstück daraus. Ich habe mir die Ringe zur Erinnerung an eine Reise gekauft, wie ich sie wohl nie mehr erleben werde. Wir waren gestrandet auf Santa Maria und die Insel hat uns willkommen geheissen. Seither denke ich, die etwas grob gehämmerten schmalen Reife bringen mir Glück, belgeiten mich, beschützen mich. Gegenstände, die Kraft geben, Ringe, Steine, Ketten, was auch immer. Krücken, die mehr sind als Erinnerung.

Und nun ist er weg, der eine. Verschwunden, mich in Ängste versetzend, zum Nachdenken zwingend. Ein Zeichen, dass ich loslassen soll? Dass etwas Neues beginnt, dass ich ihn nicht mehr brauche? Dass es ohne Talisman geht? Ich will meinen Ring wiederhaben, und alles wird gut. Wenn ich ihn finde, werde ich ganz nett sein oder sonst etwas.

Wo war ich in den letzten Stunden? Was habe ich gemacht. Systematische Suche. Ergebnislos. Pause, Essen, Ablenken. Und immer wieder: Wo ist er?

Es ist ein kalter, stürmischer Tag, einer der ersten in diesem Herbst. Auf Santa Maria war die Luftfeuchtigkeit hoch, alles feucht und warm. Jetzt sind die Finger trocken und kalt, die Ringe etwas zu gross. Sie haben leise geklimpert. Und dann habe ich eine Papiertüte zwischen die anderen Papiertüten geschoben, meine Finger streiften den eng gebundenen Packen Papier.

Ich stehe auf, eile, kippe den ganzen Inhalt mit Papiertüten auf den Boden – und da liegt er, mein vergoldeter Ring. Jetzt klimpert er wieder, zusammen mit seinem silbernen Gefährten. Santa Maria, alles ist gut.

herzlichst
barbara esther

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