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"Es" macht ratlos
Dezember 2022
Ich habe es gekauft. Das Buch, das mindestens drei Preise gewonnen hat, und das von einem Menschen geschrieben wurde. Nicht von einer Frau und nicht von einem Mann. Unsere Sprache kennt die Personalpronomen sie, er, es. Kim de l’Horizon, der Mensch, der dieses Buch geschrieben hat und weder Mann noch Frau ist, ist aber auch kein es. Das sagt Mensch ausdrücklich auf Seite 17, rechts unten in Blutbuch. Wäre Mensch ein es, wäre er ein Neutrum, gleichgestellt mit einem Gegenstand. Das ist abwertend für einen Menschen. Und doch wird es seit Jahren immer wieder verwendet. Bei Mädchen, bei Frauen: «S’Meieli isch gar es nätts», zum Beispiel. Viele Väter oder Ehemänner älteren Datums sprechen von ihren Töchtern und Ehefrauen als ihrem «es». Was zwar lieb und gar zärtlich gemeint ist, ist einfach nur patriarchalisch. Schlicht die Augenhöhe fehlt. Jetzt gibt mir Mensch Gelegenheit, das laut und deutlich zu sagen, oder leise und eindringlich zu schreiben.
Wie mag es Mensch erst gehen, der sich mit seinem Körper nicht richtig anfreunden kann, weder Frau noch Mann ist, oder von beidem etwas? Während das Meieli eine sie ist, ist der Mensch nun was? Bei jedem Satz stolpert mensch (man, sollte mensch sich abgewöhnen, wie Mensch schreibt), weil nicht er und nicht sie und nicht es, sondern alle Menschen gemeint sind).
Es ist schwierig. «Es» wird nicht nur für das Neutrum verwendet, «es» wird für das Passiv, für das Unpersönliche und für Dichterisches verwendet. So jedenfalls lernte ich es noch in der Schule. Wer aber «es» in die Suchmaschine eingibt, erhält als erste Antwort «Horrorfilm von 2017».
Ich bleibe bei meinem Schulwissen und sage jetzt, es weihnachtet!
herzlichst
barbara esther
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ganz bei Ihnen
November 2022
«Da bin ich ganz bei Ihnen», sagt der Kunde am Telefon. Instinktiv halte ich den Telefonhörer ein wenig von mir weg. Um Himmelswillen, er kann meine Meinung teilen, mit mir einig sein, mir Recht geben. Aber alles, was Recht ist, ganz bei mir will ich den fremden Mann nicht haben.
Ich habe die Redewendung dieses Jahr erstmals gehört, immer im beruflichen Umfeld. Wenn mich eine Freundin trösten will, wenn ich weine, wenn sie bei mir sein will, ist das gut. Aber das plötzlich jeder, der meiner Meinung ist, bei mir sein will, geht zu weit.
Woher kommt diese neue Ansage? Die Suchmaschine trifft auf die Bibel, auf Psalm 23, «der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, … denn Du bist bei mir…» Nichts von neu. Vielleicht will man damit in der digitalen Bürowelt neue Nähe schaffen, vielleicht kommt sie aber einfach aus einer anderen Sprache, naheliegend aus dem Englischen «I’m with you». Vielleicht ist die Bedeutung dort eine andere. Übersetzen ist mehr als ein paar Worte in einer anderen Sprache, übersetzen ist auch Kultur transportieren. Barack Obamas «yes, we can» wird bei Angela Merkel zu «wir schaffen das».
Sind Sie jetzt ganz bei mir? Müssen Sie nicht, wollen Sie nicht, ich stehe an der Bushaltstelle im Regen, und es ist kalt. Es genügt, wenn Sie meine Meinung teilen, mit mir einig sind, mir Recht geben.
herzlichst
barbara esther
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Der Ring
Oktober 2022
Plötzlich bemerke ich es. Der Ring ist weg. Und damit meine Ruhe. Der schmale vergoldete Reif, der zusammen mit dem schmalen silbernen Reif auf meinem Finger sitzt. Seit vier Monaten. Ich habe sie beide auf Santa Maria gekauft, bei Catherine, der Amerikanerin, die dort wohnt und Schmuckstücke herstellt. Ihr Freund ist Shaper und Surfer. Zusammen suchen sie auch Plastikmüll am Strand und manchmal macht Catherine ein Schmuckstück daraus. Ich habe mir die Ringe zur Erinnerung an eine Reise gekauft, wie ich sie wohl nie mehr erleben werde. Wir waren gestrandet auf Santa Maria und die Insel hat uns willkommen geheissen. Seither denke ich, die etwas grob gehämmerten schmalen Reife bringen mir Glück, belgeiten mich, beschützen mich. Gegenstände, die Kraft geben, Ringe, Steine, Ketten, was auch immer. Krücken, die mehr sind als Erinnerung.
Und nun ist er weg, der eine. Verschwunden, mich in Ängste versetzend, zum Nachdenken zwingend. Ein Zeichen, dass ich loslassen soll? Dass etwas Neues beginnt, dass ich ihn nicht mehr brauche? Dass es ohne Talisman geht? Ich will meinen Ring wiederhaben, und alles wird gut. Wenn ich ihn finde, werde ich ganz nett sein oder sonst etwas.
Wo war ich in den letzten Stunden? Was habe ich gemacht. Systematische Suche. Ergebnislos. Pause, Essen, Ablenken. Und immer wieder: Wo ist er?
Es ist ein kalter, stürmischer Tag, einer der ersten in diesem Herbst. Auf Santa Maria war die Luftfeuchtigkeit hoch, alles feucht und warm. Jetzt sind die Finger trocken und kalt, die Ringe etwas zu gross. Sie haben leise geklimpert. Und dann habe ich eine Papiertüte zwischen die anderen Papiertüten geschoben, meine Finger streiften den eng gebundenen Packen Papier.
Ich stehe auf, eile, kippe den ganzen Inhalt mit Papiertüten auf den Boden – und da liegt er, mein vergoldeter Ring. Jetzt klimpert er wieder, zusammen mit seinem silbernen Gefährten. Santa Maria, alles ist gut.
herzlichst
barbara esther
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Die Welt gehört mir
September 2022
Es ist Herbst geworden. Der Regen trommelt auf das Dach des Buses. Eine Handvoll Schüler steigt ein und setzt sich auf die Rückbank. Die Buben sind trotz der frühen Stunde aufgeweckt. Im Gegensatz zu mir. Ich lehne mich ins Polster und schaue den herabrinnenden Tropfen am Fenster zu.
Da ertönt eine helle überzeugte Stimme hinter mir: «Die Welt gehört mir.» Das ist eine Ansage an einem der ersten trüben Herbstmorgen auf dem Schulweg. Der Bub ist ein Fünftklässler aus der Nachbarschaft, geht seit kurzem in der Stadt zur Schule. Die Ansage wird diskutiert. Was ist die Welt? Nur die Erde? Oder nur der Boden? Die Erde hat doch mehr Wasser als Boden? Der Bub scheint bodenständig, Erde besitzen, scheint ihm sinnvoller als ein weites Meer voll Wasser. Ich muss aussteigen, werde nie erfahren, weshalb dem Bub die Welt gehört, und ob er sich mit dem Boden begnügt. Aber sein Optimismus hat mich beeindruckt. Ein Kind, für das die Welt noch in Ordnung ist.
Drei Stunden später, ich sitze im Büro, ruft mich eine Frau an. Sie ist 82 und versteht die Welt nicht mehr. Sie erwarte mehr Respekt gegenüber den Alten. All das Neumodische verstehe sie nicht. Sie möchte wieder ein Telefonbuch aus Papier. Und sie habe eine Busse zahlen müssen, weil sie ihren Hund nicht angeleint habe. Der Hund ist ihr letzter Gefährte. Sie findet es beschämend, ein Lebewesen anleinen zu müssen. Die Katze ist vor zwei Wochen gestorben. Sie wartet jetzt auf ihre Urne. Die Welt wird bald untergehen, sagt sie noch. Die Welt, die nicht mehr ihre ist.
Den Mutigen gehört die Welt, haben schon die alten Römer festgestellt. Und Joachim Fuchsberger wird das Zitat nachgesagt: «Altwerden ist nichts für Feiglinge».
herzlichst
barbara esther
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Schiffe anbinden
August 2022
Mit dem Auto fahre ich in eine Parklücke, steige aus und gehe davon. Mit dem Schiff ist das anders. Wind, Wellen und Strömung lassen es schaukeln und schwojen. Ich muss es anbinden. Mit zwei bis fünf Tauen und Seemannsknoten. Einen Mastwurf, einen Palsteck und eine Klampe belegen, muss ich können. Eine gute Skipperin kann allein anlegen. Sie muss vorbereitet sein und wissen, was, wo, in welcher Reihenfolge gemacht werden muss. Zu zweit geht es nicht unbedingt besser. Unterstützung vom Land, von einer Bootsnachbarin etwa, hilft.
Auf den Juraseen gibt es jeden Sommer Anschauungsunterricht. Einige nennen es Hafenkino: In der Hafeneinfahrt taucht ein Motorboot auf. In der Regel mit Mann am Steuer und Frau auf dem Vorschiff, wahlweise mit nichts, einem Fender oder einem Tau in der Hand. Der Mann ruft, die Frau versteht nichts. Ist es windstill und am Steg steht die nette Bootsnachbarin, gelingt das Manöver in der Regel früher oder später.
In Estavayer will ein Motorbootfahrer längsseits am Steg anlegen. Beim ersten Versuch wird er abgetrieben. Die Passagiere kümmerts nicht. Schliesslich gelingt es doch, und der Skipper stellt sich mit einem Fuss auf den Steg, mit dem anderen bleibt er auf dem Boot, mit den Händen nestelt er an einem Bündel Tau. Ein Windstoss, eine falsche Bewegung und der Mann ginge im Spagat baden.
Einen Tag später in Chevroux: Mann am Steuer, Frau auf dem Vordeck eines neueren Motorbootes. Der Westwind pfeift, der Motor heult. Mit dem Bug soll das Boot an den Steg, mit dem Heck an die Boje. Die Frau wühlt in den Tauen, der Mann hantiert mit dem Bugstrahlruder. Das Boot überfährt die Boje. Ihre Kette schlingt sich um die Schraube. Der Motor blockiert. Am nächsten Morgen befreit der Hafenwart Boot und Paar.
Hafenkino hat nicht nur Unterhaltungswert. Eine Leine in der Schraube braucht in der Regel einen Taucher, ein sorgloser Matrose, der zwischen Schiff und Steg fällt, eine Ambulanz. Schiffsführung ist lernbar, Rollentausch auch. Vielleicht kann die Frau besser steuern und der Mann auf Stege springen, Taue werfen und Knoten schlingen?
PS: Es ist nicht zufällig, dass die Beispiele Motorboote betreffen. Motorbootfahren wird unterschätzt. Seglerinnen sind anders unterwegs. Nicht nur mit Wind, auch mit dem Wissen, wie Segel setzen, Taue, Fallen und Schoten bedienen.
herzlichst
barbara esther
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schneller warten
Juli 2022
Warten ist unangenehm, unerträglich und für ungeduldige Menschen eine besondere Herausforderung. Die Wartende meint, Zeit zu vergeuden, Pause vom Leben zu machen. Es vergeht Zeit, die sie eigentlich schon in der Zukunft verbringen möchte. Es wird ihr gewissermassen die Zukunft geklaut.
Ich bin ungeduldig und ich stehe immer an der Schlange an, an der ich am längsten warten muss. Warten hat mit Zeit zu tun. Zeit ist relativ, das wissen wir spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie. Wie schnell die Zeit vergeht, hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der ich mich bewege. Je schneller ich mich bewege, desto langsamer vergeht die Zeit. Das ist Physik, das ist Wissenschaft. Die Relativitätstheorie ist gesicherte Erkenntnis. Das Sprichwort die Zeit vergeht wie im Flug, ist also kompletter Unsinn. Dafür werde ich schneller alt, wenn ich im Bett liege.
Meine eigene Relativitätstheorie geht anders. Meine Realität ist, dass die Zeit im Bett, wie im Flug vergeht, die Zeit im Flugzeug sich ewig hinzieht. Wahrnehmung und Naturgesetz können sich auf dem Radius meiner Welt gegenüberliegen. Naturgesetze kann ich nicht ändern, meine Wahrnehmung eigentlich schon. Wenn die Zeit relativ ist, müssen wird das zu unseren Gunsten nutzen lernen. Zeit, die gefühlt zu schnell vergeht, verlängern, und Zeit, die gefühlt zu langsam vergeht, verkürzen. Wenn ich warten nicht mehr als warten, sondern als geschenkte Zeit empfinde, vergeht sie schneller. Statt warten, Tagträumen, die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen, mit dem Warteschlangennachbar flirten. Und umgekehrt, wenn die Zeit rast, Intensität schaffen mit innehalten und geniessen.
Eines nur ist gewiss, die Zeit hat nur eine Richtung, immer vorwärts, ohne Rückkehr, ohne Wiederkehr, nur Zukunft. Uns bleibt, die Gegenwart zu leben. Erinnerungen an die Vergangenheit oder Träumen von der Zukunft helfen beim Relativieren, verkürzen beispielsweise die Zeit beim Warten.
herzlichst
barbara esther
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Der Wal
Juni 2022
Es gibt Dinge, die passieren nur den anderen – bis du selbst zu den anderen gehörst. Wir sind in Seenot geraten und haben einen Schutzengel gehabt. Warum wir, und warum hatten wir so viel Glück? Diese Fragen treiben mich um, wollen mir den Schlaf rauben. Das im-Kreis-denken anhalten, die Dinge, die passiert sind, einfach stehen lassen, sagen, es ist, wie es ist. Punkt. – Schwierig.
Vielleicht waren wir nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Um 14.36 Uhr Lokalzeit auf 37°19’41’’N und 025°21’36’’ W. Wir sassen buchstäblich alle im selben Boot, und dies war ein Seenotfall. Unspektakulär, aber stetig lief das Meerwasser ins Boot. Wir taten, was zu tun war. Ruhig und im Vertrauen, dass wir es schaffen. Wasser schöpfen, pumpen, auf 100 zählen, weitermachen. Die Zeit vergeht langsam. Ein Fischerboot taucht auf, begleitet uns, gibt uns Sicherheit, Halt. Dann quert eine Schule lustiger Delfine unser havariertes Boot. Wir schaffen es. Im Hafen dann stehen alle bereit, sind für uns da, helfen. Es ist für alle gesorgt. Das Boot hängt am Kran und tropft.
Wir reden und reden, essen und trinken und reden, immer wieder. Stundenlang. Tagelang. Wir sitzen im selben Boot. Es gibt Dinge, die sich der Vorstellung entziehen. Ihre Erfahrung aber öffnet Schleusen. Sich den Fragen stellen, ist gut. Begreifen, annehmen, stehen lassen. Die Gedanken aus dem Ruder laufen lassen, ist nicht gut. Was-wäre-wenn-Fragen sind gar nicht gut. Angst steigt auf, wie der Wal aus den Tiefen des Ozeans.
Wir sind mit einem Pottwal zusammengestossen. Wir im selben Boot, zur selben Zeit, am selben Ort, haben am Abgrund gesessen, den Schutzengel geteilt, dieselben Fragen gestellt. Die Sehnsucht nach dem Meer ist geblieben, der Respekt vor der Natur bestätigt. Wir wissen nicht, wie es dem Wal geht, aber wir vergessen ihn nicht – unseren Wal mit dem Pflaster auf der Stirn.
herzlichst
barbara esther
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Helden braucht der Mensch
Mai 2022
Jetzt werden wieder Helden geboren. Nicht auf dem Schlachtfeld, in unseren Köpfen. Helden sind all das, was wir nicht sind. Sie sind mutig und tapfer, sie kennen ihren Weg und verteidigen ihr Ziel, um jeden Preis. Sie sind erfolgreich, auch wenn sie dafür sterben. Helden retten die Welt, kämpfen und beschützen. Sie sind schön und stark, sie geben Hoffnung und lassen träumen. Helden wurden und werden aus Kriegen geboren. Dem Unaussprechlichsten, Hässlichsten, Schmerzlichsten wird das Hehre, das Reine, das Gute schlechthin entgegengestellt, um den Krieg auszuhalten, zu überwinden. Dem martialischen Ursprung des Helden entsprechend stehen männliche Attribute im Vordergrund.
Kein Grund, dass es nicht auch Heldinnen gibt. Nur in Zeiten von wiederkehrenden Kriegen besinnt man sich auf das archaische Heldentum. Helden sind auch Vorbilder. Leiden, durchhalten, Ziel erreichen, so fühlt sich der Sportler, die Schülerin, jeder Mensch ein wenig als Held oder Heldin. Das tut gut, gibt Kraft und Zukunft.
Dass gerade jetzt David gegen Goliath wieder einmal zum Helden wird, passt nicht allen. Altfeministin Alice Schwarzer radikalisiert sich eher, denn dass sie altersmilde würde. Sie ist stolz, in der Tradition der feministischen Pazifistinnen zu stehen. Doch kämpferischer Wortfeminismus reicht gegen Altimperialismus nicht. Auch Schwarzers Vorzeigemagazin emma bedient sich aus dem Repertoire des Heldentums. Etwa mit einer Geschichte über eine feministische Heldin. Das war vor einem Jahr, damals war der Krieg noch nicht so nahe, man nahm vom Heldentum nur den Glorienschein.
Manchmal muss man für den Frieden aktiv kämpfen. Helden tun das. Heldinnen auch. Und das ist gut so.
herzlichst
barbara esther
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