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der Spiegel

Mai 2023

«Haben Sie eine gute Beziehung zum Spiegel?» Die Frage kehrt jede Woche in einer Interviewrubrik der NZZ am Sonntag wieder. Eigentlich lautet sie: «Haben Sie eine gute Beziehung zu sich?» Der Spiegel kann ja nichts dafür, wie ich aussehe, er wirft mir mein Bild zurück, ob es ihm gefällt oder nicht. Ich entscheide über Lächeln oder Grimasse. Psychoanalyse beim Zähneputzen.

Spiegel haben etwas Magisches. Wer sich darin erkennt, ist intelligent. Primaten und Delfine können das. Auch Elstern sollen sich erkennen. In Klöstern sollen Spiegel verboten sein, um Eitelkeit vorzubeugen. Und in Totenzimmern werden sie verhängt, damit sich die Seelen nicht darin verirren und ewig durch die Räume geistern.

Die ersten Spiegel waren Wasseroberflächen. Für mich unvergessen, die Geschichte von Narziss. Er ist ertrunken, weil er sich in sein Spiegelbild verliebt und zu weit vorgebeugt haben soll. Diesen Text des römischen Dichters Ovid zu übersetzen war meine Höchstleistung in Latein. Spiegel sei Dank, habe ich die Matur bestanden.

Spiegel können uns auch belügen. Der Wandspiegel in unserem Tanzsaal macht das gekonnt. Je nach Standort bin ich schlank und gross, oder klein und pummelig. Und Spiegel bilden verkehrt ab. Wenn ich vor dem Spiegel mit rechts Zähne putze, sieht es aus wie mit links. Wenn ich dabei mein T-Shirt mit dem spiegelverkehrten Druck trage, erscheint die Schrift richtig. Der Druck auf dem T-Shirt ist spiegelverkehrt, weil ich einen Gullideckel mit Farbe beschmiert und das T-Shirt draufgedrückt habe. Ein Abdruck ist ein Spiegelbild, das die Spiegelreflexkamera korrigiert. Sie spiegelt den Abdruck des Motivs. Wenn ich wiederum ein Foto auf ein T-Shirt drucke, muss ich es vorher spiegeln, da es beim Druck widergespiegelt wird.

Wenn ich mein Spiegelbild mit einem Spiegel spiegle, sehe ich mich, wie die anderen mich sehen. Wem das zu kompliziert ist, höre sich Mani Matters Lied «bim Coiffeur» an.

herzlichst
barbara esther

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Mädchen unterwegs

April 2023

Zwei tragen ein rosa Mäntelchen, die dritte ein blaues. Die beiden in rosa müssen Schwestern sein, die eine etwa vier, die andere sieben, die Begleiterin im selben Alter wie die Grosse. Die drei sind auf dem Heimweg, es ist früher Abend. Die Strasse führt über Treppen bergauf. Die Kleine quengelt. Auf diesem steilen Weg quengeln Kinder gerne, besonders am Abend, wenn auch die Eltern müde sind, aber sie vielleicht trotzdem tragen. Die drei Mädchen sind allein.

Die Grosse und die Freundin reden der Kleinen gut zu. Diese quengelt weiter. «Ich trag dich», sagt die im blauen Mäntelchen. Sie greift die Kleine um die Hüfte, hebt sie an und streckt den Rücken weit nach hinten. Das rosa Mäntelchen rutscht hoch, das Mädchen im blauen ist nach ein paar Schritten ausser Atem. «Ich nehm dich huckepack», sagt sie und lässt die Kleine auf ein Mäuerchen steigen und geht in die Knie. Hauruck und auf und vorwärts und Autsch. Die Kleine schreit, weshalb ist nicht ganz klar, irgendetwas gefällt ihr nicht. Die drei sind unten an der Treppe, die hoch zu den Häusern führt, angekommen. Die Kleine steht am Boden und quengelt weiter. Die Grossen beratschlagen. Einigen sich, die Kleine auf die Schultern zu nehmen. Die eine setzt sich auf die Treppe, die Kleine stellt sich hinter sie und soll aufsteigen. Der erste Versuch scheitert, der zweite auch. Das Quengeln steigert sich zum Gebrüll. Die Grossen sind ratlos. Sie wollen nach Hause.

Dann beginnt die eine zu singen. Die andere stimmt ein. Die Kleine verstummt. – Die drei machen sich auf den Weg. Singend und leichten Schritts treppauf, und heim. 

herzlichst
barbara esther

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Leselast

März 2023

Ich lese, seit ich mich erinnern kann. Lesen ist wie essen für mich. Ich bin übergewichtig, Buchstabenübergewichtig. Ich kann an keinem Buchladen, an keinem Bücherantiquariat vorbeigehen, und keinen Bücheronlineshop anklicken, ohne zu shoppen. Ich stopfe Krimis und Thriller in mich hinein, bin süchtig nach Romanzen und Historienromanen und geniesse die vollendete Sprache von richtig guter Literatur.

Was aber mache ich mit schlechter Literatur, verderbe ich mir damit Herz, Hirn und Seele, kötzle ich die unverdaulichen Sprachhaufen aus, oder versuche ich sie tapfer auszuhalten und zu verdauen?

Ich bin zu einem Schluss gekommen. Ich habe kürzlich irgendwo gelesen, dass der Mensch nur wenige tausend Bücher im Leben lesen kann. Das hat mich aufgerüttelt, erschüttert. Die ersten Bücher habe ich gelesen, bevor ich schwimmen oder Skifahren konnte. Mangels Fernsehens kam ich gar nicht auf die Idee, nicht zu lesen. Fünf Bücher pro Woche gab die Schulbibliothek her. Ich musste die dicksten auslesen, sonst hätte der Stoff nicht gereicht. Ich las im Zug, im Auto und natürlich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.  Später kam Fachliteratur hinzu – zählt die auch für meine Lesestatistik? Jedenfalls ist auch ein Buch an meiner Berufswahl schuld.

Mit zehn Jahren etwa habe ich begonnen jährlich ungefähr 50 Bücher zu lesen. Also 500 in zehn Jahren. Bis ich 80 bin, werden es 3500 Bücher sein. Ob ich im Fahrplan bin, weiss ich nicht, aber ich lege einen Gang zu. Ich habe in meinem Büchergestell Platz gemacht. Alles, was ich bisher nicht gelesen habe, werde ich nicht mehr lesen. Alles, was ich gelesen habe und mir nicht aus speziellem Grund sehr am Herzen liegt, muss weg.

Ich lese nur noch Bücher, die ich wirklich lesen will. Oft weiss ich das nach dem ersten Satz. Es ist wie mit dem Essen, gut muss es sein, süffig, süss und scharf. Leselust statt Leselast.

herzlichst
barbara esther

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Lippenstift, aber bitte rosa

Februar 2023

Rote Lippen soll man küssen, das ist ein alter Schlager, aber letztlich geht es immer noch darum. Frau malt Lippen rot, Mann beisst an. Vor allem in Krisenzeiten soll Frau zum roten Lippenstift greifen, damit sie ihre Zukunft sichern, d.h. sich einen reichen Mann angeln kann. Das nennt man dann Lippenstift-Effekt.

Lippenstift-Effekt ist aber auch – und diese Erklärung gefällt mir besser – dass Frau sich in Krisenzeiten ein bisschen Luxus gönnt. Und weil sie sich nichts Teures leisten kann, kauft sie einen Lippenstift. Die Farbe darf dann gern dezenter sein, rosa etwa.

Es sei erwiesen, dass die Kosmetikbranche in Krisenzeiten boomt, stand kürzlich in den Zeitungen zu lesen – vielleicht gibt es noch einen dritten Grund? 

Lippenstift gibt es seit 130 Jahren hat die Uni Mannheim 2013 in einer Studie herausgefunden, inzwischen also seit 140. Was hat Frau vorher gekauft? Krisen gibt es sicher schon viel länger. Und was kauft sich eigentlich Mann? Eine Flasche Wein, einen Schnaps? Oder angelt er sich eine Frau? Eine mit rosa Lippen, denn die kann für sich selber sorgen und vielleicht auch für ihn. Die mit dem roten Lippenstift ist auch auf der Suche nach ein bisschen Krisensicherheit.

herzlichst
barbara esther

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nicht für nichts

Januar 2023

Ich habe eine Spaghettigabel mit Kurbel gekauft. Mensch muss sich das vorstellen. Statt die Gabel zu drehen, um die Spaghetti aufzuwickeln, drehe ich oben am Stiel der Gabel an der Kurbel und die Gabel dreht sich von selbst. Faszinierend, wollte ich haben. Benutzt habe ich sie bis heute nicht. Dafür bin ich fasziniert, was für Blödsinn der Mensch sich andrehen lässt. Eigentlich ist die Kurbelgabel viel komplizierter als die simple Gabel. Statt, dass ich mit einer Hand die Gabel drehe, und die Spaghetti in den Mund hebe, muss ich mit einer Hand die Gabel festhalten und mit der anderen an der Kurbel drehen, und wenn die Gabel voll ist, die Hand wechseln, und die Nudeln in den Mund schieben. Ich habe ein Hilfsmittel gekauft, das den Prozess erschwert, statt erleichtert. Wenigstens ist die Gabel aus Holz und Metall. Es hätte nämlich schlimmer kommen können. Es gibt sie auch mit Plastik und Batterie. Da drückt mensch ein Knöpfchen, und die Gabel dreht sich im Uhrzeigersinn. Das ist für ganz Faule und erleichtert das Spaghettiaufwickeln vielleicht effektiv.

Vermeintlichen Unsinn gibt es auch andernorts. Eine Anwaltskanzlei im Wallis sucht einen CHO, einen chief officer of hapiness. Das ist nicht ein glücklicher Chef, sondern einer, der verantwortlich ist, dass alle Mitarbeitenden glücklich sind. Ist kein Witz, der Chef dieser Anwaltskanzlei soll nämlich ein Raubein sein und will das kompensieren. Wenn der Glücklichmacher sein Handwerkwerk versteht, ist er nicht für nichts, dann will ich auch so einen.

Und damit ich den Spaghettikurbler nicht für nichts gekauft habe, wer ihn haben möchte, soll sich melden, ich verschenke ihn.

herzlichst
barbara esther

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