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nichts
September 2024
Können Sie nichts tun? Nichts machen, nichts denken, nichts sehen, nichts hören. Wann haben Sie es zum letzten Mal versucht? Die Augen geschlossen, aufs Wasser, in den Himmel oder auf eine Wand gestarrt. Den Stecker zu allen Synapsen gezogen. Sich bequem hingelegt, sich entspannt und langsam eingeatmet, ausgeatmet. Sie sind nicht eingeschlafen, Sie haben sich ins Nichts fallen lassen. Erinnern Sie sich ans Loslassen? Wissen Sie, wie sich nichts tun anfühlt? Ich finde, nichts ist schwieriger als nichts tun.
Mein Kopf ist rastlos, denkt sich eine Geschichte aus, träumt von der nächsten Reise, hält einer Freundin eine fiktive Rede. Nicht, dass er sich nicht nach Nichtstun sehnt. Nichtstun gibt Raum, schafft Platz. Für ein Reset, zum Ausmisten, für einen Neuanfang. Kopf leeren, bis Ebbe ist und die Flut herbeigesehnt wird. Ich wünschte mir ein Ventil auf dem Kopf, mit einem roten Knopf. Vor der Explosion bitte drücken, stünde darauf. Welch Erleichterung den Farben und Formen und Fanfaren, den Flammen, Fontänen und Fürzen zuzusehen, die sich chaotisch befreiten und im All entschwänden.
Ganz leer und rein und leicht hängte ich mich dann unter den Himmel und schaukelte. Und dann lande ich am Strand und lasse mich von der Flut wieder volllaufen. Ich muss nur auf dem richtigen Strand landen, das ist das Wichtigste, glauben Sie mir.
Aus dem Nichts wächst Neues, Reines, Anderes, Vermisstes, Verlorenes. Wenn Durst und Hunger plagen und der Magen leer ist, schmecken Essen und Trinken besser, erlösen, erleichtern, erfreuen.
Nun sagen Sie nicht, Sie hätten keine Zeit zum nichts tun. Wenn Sie keine Zeit haben, haben Sie auch keine Wahl. Wählen aber ist der Anfang der Freiheit.
Ich setze mich jetzt an den See, schaue aufs Wasser. Nichts ist wichtiger, nichts ist schöner, nichts will ich mehr als das Nichts finden im See.
herzlichst
barbara esther
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PS: Heute erhaltet Ihr meinen newsletter erstmals auch zum Hören. Was meint Ihr? Möchtet Ihr ihn weiterhin auch hören, und wenn ja, Hochdeutsch oder Berndeutsch? Ich danke Euch für Euer Feedback.
Seilschaften
August 2024
Früher oder später erzählen Schweizerinnen und Schweizer am Meer immer von den Bergen. Skifahren, wandern, welche Pisten, welche Wege, welche Berge. Ist es Heimweh, wenn am Abend im Schiff nicht Seemannsgarn, sondern Berglegenden die Runde machen? Wenn Geschichten übers Val d’Anniviers oder das Engadin ausgegraben werden, während die Crew im Mittelmeer, vor den Kanalinseln oder in der Karibik am Anker hängt. Ich habe es bisher nie verstanden, mich immer ein wenig geärgert. Ich fahre ans Meer um Wasser, Wind, Wellen und Wärme zu tanken, den Bergen und mir, vor allem mir, eine Pause zu gönnen. Ich fahre ans Meer, weil hier der Himmel grösser ist.
Seit ich öfter in die Berge fahre, erschliessen sich mir plötzlich Parallelen. Zwei Welten, die zusammenrücken. Ob Wellentäler und Berggipfel, Segelschiffe und SAC-Hütten, sie verbinden Seilschaften, wecken Emotionen, erfüllen Bedürfnisse. Frau sitzt im selben Boot, zieht am selben Strick. Die einen kämpfen gegen Seekrankheit, die anderen gegen Höhenangst. Hier tauchen die Basstölpel, dort kreisen die Bartgeier. Hier begleiten uns Delfine, dort sichten wir Steinwild. Hier fieren wir Schoten, dort sichern wir einander mit Seilen. Und alle kuscheln wir uns am Abend in Schlafsäcke mit schweren Gliedern und leichten Herzen. Und nie ist das Firmament schöner, der Himmel näher und die Sterne leuchtender als in klaren Nächten auf See oder auf dem Berg.
Vor allem aber sind es Gefühle, die Segler und die Bergler verbinden. Zusammen unterwegs, an Grenzen gehen und darüber hinaus, Herausforderungen annehmen, meistern und belohnt werden mit massloser Natur.
In den Buchten vor Sark sind in klaren Nächten das einzig Irdische die Ankerlichter der Segelschiffe. Ich stand in einer solchen Nacht im Niedergang und war berauscht. Sterne ohne Grenzen, die im Meer versinken. Der Himmel am Meer ist zwar nicht schöner, aber definitiv grösser.
herzlichst
barbara esther
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Wundersames
Juli 2024
Der Vatikan schafft Wunder ab. So steht es in der NZZ am Sonntag. Schade, so ein kleines Wunder wünscht sich doch jede ab und zu. 1970 war noch Hoffnung. Katja Eppstein sang «Wunder gibt es immer wieder» und erreichte damit Platz 3 am ESC in Amsterdam. Nun ja, die Schweiz gewinnt den ESC auch ohne Wunder, nemo genügt.
Sind angesichts der heutigen Welt selbst dem Vatikan Zweifel an Wundern und Göttlicher Macht gekommen? Begründet wird anders. Es gibt zu viele Wunder, will heissen, all die Wallfahrtsorte sind zu geschäftstüchtig, dem Vatikan ist es nicht mehr geheuer all das Wundersame, das geschieht abzusegnen.
Die Bibel erzählt von vielen Wundern, etwa wie Wasser zu Wein wird. Sie kennt weder Fakenews noch Faktencheck. Glaube ist alles. Und wer zu sehr glaubt, endet als Märtyrerin und wird heiliggesprochen. Ein Wunder macht die Geschichten erträglicher. Etwa bei der heiligen Agatha von Catania, die sich um 250 n. Chr. weigerte dem römischen Statthalter zu Diensten zu sein. Da liess dieser ihr die Brüste abschneiden. In der folgenden Nacht soll Apostel Petrus sie im Gefängnis besucht und geheilt haben. Agatha wurde hingerichtet, worauf der Ätna ausbrach. Das nach ihr benannte gesegnete Agathabrot soll das Feuer abhalten und an ihre verlorenen Brüste erinnern.
Heiligsprechen kann nur der Papst und heiliggesprochen wird nur, wer eine Märtyrerin ist oder ein Wunder vollbracht hat. Die Zahl der Heiligen wird sich also reduzieren. Jetzt, wo die Welt mehr denn je Wunder und Heilige brauchen könnte. Nicht nur vom Papst abgesegnete. Doch, wer macht den Faktencheck?
herzlichst
barbara esther
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Die Wachtel
Juni 2024
Tafelrunde. Der letzte Abend unserer Reise. Der Hauptgang wird aufgetragen. Da liegt sie vor mir auf dem Teller. Auf einem weichen, weissen Beet Risotto. Das pralle Bäuchlein zart gebraten, die Beinchen leicht gespreizt, als wollten sie gleich strampeln. Da, wo das Köpfchen sässe, liegt ein Tomätchen. Zum Glück, sonst würden noch die Äuglein starren. Ich kann nicht wegschauen, aber auch nicht hinsehen, fühle mich wie schockgefroren. Kann, darf man das essen?
Ich werde jetzt nicht über nachhaltiges, klimawandeladäquates Essen schreiben. Auch nicht über Tierwohl. Jedes Lebewesen hat seinen Platz in der Nahrungskette. Fressen und gefressen werden. Der Mensch nur, übertreibt allenthalben, kennt die Grenzen nicht. Die Wachtel erinnert mich an eine Reise vor Jahren nach La Gomera. Auf der Speisekarte in einem Restaurant in San Sebastian stand: «Babyoktopusse in ihrer eigenen Tinte» – um sie auf der Zunge zergehen zu lassen? Wird sie dann schwarz? Mir wächst Gänsehaut.
Was mache ich nun mit meiner Wachtel? Die Tischnachbarin rechts vermeidet den Blick, ist Vegetarierin, schaufelt Quinoa. Der Tischnachbar links schweigt diplomatisch und isst, sein Nachbar ebenso und dessen Nachbar dasselbe. Ich entschliesse mich schliesslich um der Würde der Wachtel willen, sie nicht zu verschmähen und ihrer Bestimmung zuzuführen. Ich reisse die Beinchen aus und stecke die Gabel ins pralle, zart gebratene Bäuchlein.
herzlichst
barbara esther
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verpasste Gelegenheit
Mai 2024
Ich fahre nicht oft Zug. Früher war das anders. Ich fuhr jeden Tag aufs Gymnasium. Wir waren zu viert, alle Mädchen. Eine stand immer genau am richtigen Ort, um als erste einzusteigen und uns ein Abteil zu sichern. Dann setzten wir uns hin und jassten oder strickten. Jassen war am längsten Trumpf. Die anderen Passagiere lasen Zeitung oder dösten, oder rauchten, das gab es damals noch.
Heute ist vieles anders, nicht nur, dass es nur noch Nichtraucherwagen gibt. Die Passagiere haben Stöpsel in den Ohren und Smartphones vor der Nase. Ich bin die einzige mit einem Buch. Sogar heute, wo viele Literatinnen oder Bücherleser im Zug sitzen. Ich bin unterwegs an die Literaturtage. Bald sind wir da. Ich reihe mich hinter den Wartenden ein. Im Abteil vor der Tür auf der linken Seite stehen zwei abgenützte Überseekoffer mit Aufklebern. Daneben ein grosser Haufen Kleider. Bei genauerem Hinsehen ist es ein Mensch in einem Haufen Kleider, den Kopf unter einer Kapuze vergraben, ein Bild völliger Erschöpfung. Er muss vom Flughafen kommen, Switzerland in ten days oder so. Sieht nicht nach dem grossen Vergnügen aus.
Auch im Abteil rechts vor der Tür ist jemand nicht ansprechbar. Ein Mann in Sportausrüstung zwängt sich in seinen überdimensionalen Rucksack. Er will der Frau, die gegenübersitzt, etwas sagen. Sie reagiert nicht. Der Mann versucht es wieder. Es ist ihm ein Anliegen. Er wird sich gleich in einen zum Bersten vollen Bus stopfen lassen, um auf den Berg gefahren zu werden, von dem er mit dem Gleitschirm wieder runterfliegt. Der Zug steht still, der Mann ruft der Frau noch im sich Umdrehen etwas zu, steigt dann aus. Ich sehe im Vorübergehen die weissen Stöpsel in den Ohren der Frau. Alles an ihr ist Stöpsel, sie versinkt in ihren Stöpseln.
Ich steige auch aus, laufe am Bus der Gleitschirmflieger vorbei und gehe meinerseits den Dichtenden entgegen. Denkt der Gleitschirmflieger aus dem Zug noch an die Frau, wenn er in der Luft ist? Was, wenn er abstürzte, ohne der Frau gesagt haben zu können, was ihm so drängend schien? Die Frau erführe es nie, wüsste nicht einmal, dass es jemanden gab, der ihr etwas hätte sagen wollen.
Aber vielleicht war alles ganz anders.
herzlichst
barbara esther
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Odysseus auf dem Mond
April 2024
Als wäre Odysseus nicht lange genug unterwegs gewesen, wurde er jetzt auch noch auf den Mond geschickt. Welches Abenteuer ihn dort erwartet, ist nicht bekannt, ob nur der Mann im Mond, eine Göttin oder Zaubererin namens Luna. Was man weiss, ist, dass sein Gefährt umgekippt, was heisst, er bräuchte den Zauber, soll seine Penelope nicht vergebens auf ihn warten. Dass der Mensch jetzt auch den Mond zumüllt, ist uns nicht entgangen.
Odysseus und der Mond sind im Jahr 2024 n. Chr. nicht das einzige Paar, das man sich bisher kaum hätte vorstellen wollen. So haben sich auch Mensch und Schwein, man möchte sagen zum Schweinsch vereint. 69 Genmanipulationen machen es möglich, dass ein Mensch jetzt mit einer Schweineniere lebt. Will man sich vorstellen, dass dereinst ein Pferdeherz oder Affenhirn den Menschen retten wird?
Weitere widersprüchliche Paare? Nur zu: Nach dem Pandemie bedingten Boom des homeoffice, in dem Arbeit und Daheim schon gefährlich zu kollidieren begannen, ist jetzt die Steigerung geboren, die workation. Im Engadin kann man arbeiten und nahtlos in den Ferienfeierabend samt Fondueplausch schlitteln. miaEngiadina machts möglich und kapert erst mal die Nerds, Woken und anderen Trendlinge aus der grossen Stadt. Dieses sogenannte Work-Life-Blending ist das Gegenteil von Work-Life-Balance, Fortsetzung vom Auseinander zum Miteinander, wobei das Miteinander sich hier nur bedingt auf die menschliche Interaktion bezieht. Während der Arbeit Ferien machen oder in den Ferien arbeiten, spart Zeit. Ob das effizient ist? Effektiv sicher nicht.
Sind das nun Absurditäten oder neue Realitäten? Wenn ich demnächst in schöner Umgebung, fort von daheim, schreibe, werde ich weder arbeiten noch Ferien machen. Ich werde einfach glücklich sein. Vantüraivel, sagt man im Engadin.
herzlichst
barbara esther
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der Tischnachbar
März 2024
Wann waren Sie zum letzten Mal in einem Hotel? Die Tische am Morgen und Abend von Hotelgästen besetzt. Zum Beispiel in der Skisaison. Zum Frühstück Pantoffeln, Trainerhose und Bauch. Wenigstens ist es still, nur die Kaffeemaschine zischt und die Löffel klirren. Müesli wird reingeschaufelt, Eier werden geköpft, Schnitten gestrichen.
Abseits der Schulferien sind vorwiegend Rentner und jüngere Paare ohne Kinder unterwegs. Abends ist es lauter als am Morgen. Bei Wein und Bier werden Erlebnisse getauscht – könnte man meinen. An einem Tisch wird Englisch gesprochen, am nächsten Baseldeutsch, am übernächsten Französisch. Grosse Tischrunden sind lauter, als kleine, nicht etwa, weil es mehr Leute sind, sondern weil man sich in einer Gruppe weniger gut kennt und sich mehr zu sagen hat. Wer lieber schweigt, ist zu zweit. Oft jedenfalls. Vertieft ins Handy, ins Essen oder in Träume von einem anderen Leben.
Ausser an dem Tisch mit dem Baseldeutsch sprechenden Paar, das zwischen dem Tisch mit den Engländern und den Welschen sitzt. Nicht hinhören, geht nicht, jedenfalls, wenn man Baseldeutsch versteht. Der Mann mit seiner Frau in den Winterferien muss viel loswerden. 30 Jahre Frust. Er will künftig keine Kompromisse mehr eingehen. Die Frau ist kaum zu hören. Sie spricht leise, versucht ab und zu etwas einzuwerfen. Wahrscheinlich wäre sie jetzt lieber an einem Tisch, an dem geschwiegen oder in der Gruppe diskutiert und gelacht wird. Ihr Unwohlsein ist bis zu uns, zwei Tische weiter, greifbar zu spüren. Als wir aufstehen und an ihnen vorbeigehen, kämpft sie sich tapfer durchs Dessert, das Gesicht unter einem Lockenkopf grauschwarzer Haare versteckt.
Wir sehen die Beiden nicht mehr. Am nächsten Morgen nicht und auch am Abend nicht. Vielleicht sind sie abgereist. Fast wünschte ich mir, sie sei allein gereist.
herzlichst
barbara esther
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