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Irrtümer und andere Wünsche

November 2023

«Mein Freund sagt, Du hättest ihm zugezwinkert.» Sie sagte das leicht vorwurfsvoll, vor allem aber erstaunt. Ich staunte auch. Sie war meine Banknachbarin in der Oberstufe, ihr Freund alter österreichischer Adel. Sie hatte ihn vor kurzem kennengelernt. Es war ihr erster Freund. Am Klassenfest stellte sie ihn vor. Ich erinnerte mich kaum. Aber ich blinzle viel. Damals und heute. Ich habe trockene Augen. Auch wenn mir Prinzen vorgestellt werden, für die ich keine Schwäche habe. Jedenfalls heiratete meine ehemalige Banknachbarin den Prinzen. Zehn Jahre und zwei Kinder später war er weg. Vielleicht, weil eine mit einer Schwäche für Prinzen zwinkerte.

Flirten ist ein wunderbares Spiel. Fördert das Selbstbewusstsein, regt die Blutzirkulation an, testet die Schlagfertigkeit. Aber nicht ganz ungefährlich. Früher nicht und heute erst recht nicht. Überhaupt wird heute viel weniger geflirtet. Und das hat nicht nur mit dem zunehmenden Alter oder einer langen Beziehung zu tun. Wohl aber mit #MeToo. Mann verzichtet lieber auf das Spiel mit dem Feuer als sich die Finger zu verbrennen.

Übrig bleibt das Nett sein. Ich meine jetzt nicht die Netten, die immer und überall zu allen gleich nett sind und vor Nettigkeit triefen. Ich ziehe definitiv diejenigen vor, die mir heute sagen, du nervst, und morgen, du bist wunderbar. Mit Ehrlichkeit kann ich umgehen. Bei den Netten rutsch ich an der glatten Oberfläche ab.

Ich meine die echt Netten, die frau einfach mag, die ihr das Gefühl geben, respektiert und ernst genommen zu werden oder gar etwas Besonderes zu sein. Es sind die besten Verkäufer, die geliebtesten Lehrerinnen, die geschätztesten Arbeitskollegen. Ein Lächeln, ein Kompliment, ein freundschaftlicher Schubs in die Seite. Ist der Flirt zurück oder macht er das mit allen so?

Mir kommt der alte österreichische Adel in den Sinn. Ein Irrtum nur, vielleicht hätt er sichs gewünscht. Ein kühner Traum, das Aug bleibt trocken.

herzlichst
barbara esther

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Achterbahn

Oktober 2023

Unsere Nachbarskinder sind im Vergnügungspark. Sie fahren Achterbahn. Freiwillig juchzend, glucksend, das Herz hüpft, den Magen lüpfts. Ich fühle mich in Zeiten wie diesen auch auf einer Achterbahn, weder freiwillig noch juchzend, eher himmelhochjauchzend zu Tode betrübt. Und das ohne manisch-depressiv zu sein. Ich habe nur das Gefühl die Welt um mich herum dreht nicht mehr rund.

Ich verbringe ein paar Tage im Alpental, lache mit Gleichgesinnten, greife nach den Sternen, fühle mich frei und ungebunden. Gleichzeitig fallen in der Ukraine weiter Bomben, flüchten Menschen, verlieren Liebste. Ich fahre unter blauestem Himmel durch die Dreiseenlandschaft, bade im spiegelglatten glitzernden Wasser und weiss nicht, dass in diesem Moment im Nahen Osten Terroristen brutal Zivilisten überfallen.

Das Klima spielt verrückt, die Menschen auch. Abbrechen und ausbrechen, um wieder aufzubrechen, immer wieder und trotz allem. Sich eine Atempause, eine Auszeit gönnen, ein kleines Glück einfangen, so wertvoll, um das Realität gewordene Unvorstellbare auszuhalten.

Balance halten in Zeiten wie diesen, wo sich die Welt zur Achterbahn wandelt.

herzlichst
barbara esther

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Hamsterrad

September 2023

Die Arbeitswelt ist aus den Fugen geraten. An den Flughäfen fehlen Buschauffeure, Büros sind verwaist. Einsame werden im Homeoffice noch einsamer und im Büro erst recht, da dort keiner mehr ist. Berufe, für die bis vor Kurzem niemand Verwendung hatte, schiessen ins Kraut. Kennen Sie eine Abfalldesignerin, einen Aquaponik-Fischfarmer, eine Roboterberaterin oder einen Personalentwickler?

Gerade letzteren verdanken wir kreative Veränderungen am Arbeitsplatz. So stellen Arbeitgeber ihren Mitarbeitenden ein Laufband zur Verfügung. Um es unter den Schreibtisch zu stellen. Bewegung fördere die Gesundheit, vorausgesetzt die Mitarbeitenden können Multitasking. Stellen Sie sich vor, Sie marschieren auf diesem Band und telefonieren mit einem Kunden oder konzentrieren sich auf einen Brief. Gleichzeitig läuft das Band mit bis zu 3.5 km/h. Können Sie diesen Rhythmus einhalten und gleichzeitig konzentriert und empathisch mit Ihrem Kunden reden? Oder im Takt Ihres Marsches einen Brief schreiben? Wenn nicht, werden Sie unweigerlich stolpern – mit den Füssen oder mit dem Kopf. Um solche Unfälle zu verhindern, wird die nächste Phase dann das Hamsterrad für die Pause sein. Die, welche mit dem Fahrrad oder zu Fuss ins Büro gehen, dürfen in der Pause weiterhin Kaffee trinken.

Bewegen, Stress abbauen, Koordination trainieren – während der Arbeitszeit und mit Sofortwirkung. Das geht. Auf meinem Schreibtisch steht jetzt eine Boxbirne. Mühsamer Kunde, nerviger Chef – eine rechte Gerade, zielgenau und kraftvoll – kostet mich ein Lächeln.

herzlichst
barbara esther

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grenzenlos

August 2023

«Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein». Wer kennt es nicht, das Lied von Reinhard Mey aus dem Jahr 1974. Die Realität aber ist eine andere. Begrenzter Raum im Flugzeug, Blick auf die Wolken nur durch ein kleines Oval. Kein Rauskommen, kein sich in die Wolken fallen lassen. Kein Tanz im fluffigen, weichen Weiss. Kein schwereloses in den Himmel Träumen. Klaustrophobie statt Freiheit. Die Realität setzt Grenzen. Über und unter den Wolken. Staatsgrenzen, Gartenzäune, Fremdsprachen und all die eigenen Grenzen, von der Gesundheit über die Intelligenz bis zum Portemonnaie. Tatsachen, die Grenzen schaffen.

Passt nicht. Ist nicht schön. Zurück auf Feld 1.

 «Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein», sang einst Reinhard Mey und singt er heute noch, und wir halten uns fest daran. Ich schaue aus dem Fenster. Bis zum Horizont schieben sich Wolken und Wölkchen über- und untereinander, zirrenfein und watteweich. Im Westen leuchten sie rosig rot in der untergehenden Sonne. Ich stelle mir vor, ich steig aus und ich dreh mich schwerelos im Himmelsrund. Luftschlösser ringsherum. Ich hebe ab, ich träume. Alles ist gut im Hier und Jetzt.  Unendlich, masslos, bodenlos – Gefühle sind grenzenlos, so denn wir sie zulassen.

Passt. Ist schön. Ich bleib auf Wolke 7. Da, wo sich Grenzen sprengen lassen und Träume grenzenlos sind.

herzlichst
barbara esther

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Insel der Sonnenuntergänge

Juli 2023

Nein, ich schreibe jetzt keinen Kitschroman. Wobei manchmal darf ein bisschen Kitsch schon sein. Wenn denn Natur Kitsch ist. Ich war kürzlich auf der Partyinsel. Das ist ein Vorurteil, und Vorurteile lohnen sich insofern, als sie uns Türen öffnen, durch welche frau nie hatte gehen wollen.  So habe ich die Vororte und Partyplakate aufs Schnellste hinter mir gelassen und im Hafen das Schiff bestiegen. Ohne Zögern haben wir die Leinen gelöst, und sind durchs Blaue ins Türkise gesegelt, wo bald der Anker fiel, und ein neues Farbenspiel begann. In zartestem Gelb über Orange und Rot bis ins dunkelste Violett sank die Sonne ins Meer. Ein solcher Kitsch war selbst der Natur zu viel. Wir lasen tags darauf, dass die Rauchwolken der kanadischen Waldbrände das Mittelmeer erreicht haben und mit ihren Partikeln das Farbspektrum multipliziert haben.

Dennoch dem Zauber der Sonnenuntergänge unterliegt die ganze Insel. Scharen von Menschen pilgern jeden Abend an die Westküste. Ob auch Partygängerinnen darunter sind, weiss ich nicht. Ich glaube viel eher, an der Westküste finden die eigentlichen Partys statt. Mit Bussen, Schiffen, Autos, Fahrrädern oder zu Fuss machen sich die Menschen auf, und lassen sich an den Stränden nieder. Dicht an dicht sitzen, stehen sie, still, andächtig. Manchmal schallt klassische Musik übers Wasser. Und wenn die Sonne dann im Meer versunken ist, klatscht die Menge dem wahren Popstar der Insel zu. Hühnerhautmoment, sich staunend einlullen lassen von diesem Ritual, das, ich weiss es nicht, vielleicht auf die alten Hippies zurückgeht, die die Insel seit den 60iger Jahren immer noch bevölkern, und in uns die Sehnsucht nach der Sehnsucht weckt.

herzlichst
barbara esther

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Kind der Sterne

Juni 2023

Welch schöner Titel für ein schönes Buch. Kind der Sterne, oder wo die Zeit geboren wurde. Die Sonne gibt uns Tag und Nacht vor, der Mond die Gezeiten, die Umlaufbahn der Erde die Jahreszeiten. Einmal rundherum ergibt ein Jahr. Von Vollmond zu Vollmond vergeht ein Monat. Von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang und wieder zu Sonnenaufgang sind es 24 Stunden. Die alten Ägypter haben die Zeit mit der Sonnenuhr gemessen, die 24 Stunden Einteilung geht auf die Babylonier zurück. Bereits die ersten Hochkulturen auf der Erde haben die Zeit zähmen wollen. Das schöne Buch «Horology, a Child of Astronomy» / «L’horlogerie, fille de l’astronomie», von mir zugegeben etwas frei übersetzt, habe ich denn auch in einem Uhrenmuseum gefunden.

Jetzt, wo wir uns unter dem Sommerhimmel ins noch warme Gras legen können, fühlen wir uns den Sternen besonders nah. Das ist allerdings ein Wunschtraum. Der Andromedanebel ist 2’500’000 Lichtjahre von uns entfernt. Wenn wir ihn heute ansehen, ist sein Licht so unvorstellbar lange Zeit unterwegs gewesen, dass er sich inzwischen verflüchtigt, verdichtet oder sonst verändert haben könnte. Um das Rätsel der Sterne zu lösen, reicht ein Menschenleben nie, vielleicht nicht einmal die Lebensdauer der Menschheit. Zeit ist relativ und mathematisch höchst komplex und geht über den Hirnhorizont der meisten Menschen hinaus.

Der Horizont des Herzens reicht immer bis zu den Sternen. Wer eine Sternschnuppe sieht, darf sich etwas wünschen. Und als mir vor langer Zeit mein Liebster einen Stern vom Himmel holen wollte, schlug mein Herz höher. Erinnerungen sind zeitlos.

Ich wünsche allen eine gute Zeit. 

herzlichst
barbara esther

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der Spiegel

Mai 2023

«Haben Sie eine gute Beziehung zum Spiegel?» Die Frage kehrt jede Woche in einer Interviewrubrik der NZZ am Sonntag wieder. Eigentlich lautet sie: «Haben Sie eine gute Beziehung zu sich?» Der Spiegel kann ja nichts dafür, wie ich aussehe, er wirft mir mein Bild zurück, ob es ihm gefällt oder nicht. Ich entscheide über Lächeln oder Grimasse. Psychoanalyse beim Zähneputzen.

Spiegel haben etwas Magisches. Wer sich darin erkennt, ist intelligent. Primaten und Delfine können das. Auch Elstern sollen sich erkennen. In Klöstern sollen Spiegel verboten sein, um Eitelkeit vorzubeugen. Und in Totenzimmern werden sie verhängt, damit sich die Seelen nicht darin verirren und ewig durch die Räume geistern.

Die ersten Spiegel waren Wasseroberflächen. Für mich unvergessen, die Geschichte von Narziss. Er ist ertrunken, weil er sich in sein Spiegelbild verliebt und zu weit vorgebeugt haben soll. Diesen Text des römischen Dichters Ovid zu übersetzen war meine Höchstleistung in Latein. Spiegel sei Dank, habe ich die Matur bestanden.

Spiegel können uns auch belügen. Der Wandspiegel in unserem Tanzsaal macht das gekonnt. Je nach Standort bin ich schlank und gross, oder klein und pummelig. Und Spiegel bilden verkehrt ab. Wenn ich vor dem Spiegel mit rechts Zähne putze, sieht es aus wie mit links. Wenn ich dabei mein T-Shirt mit dem spiegelverkehrten Druck trage, erscheint die Schrift richtig. Der Druck auf dem T-Shirt ist spiegelverkehrt, weil ich einen Gullideckel mit Farbe beschmiert und das T-Shirt draufgedrückt habe. Ein Abdruck ist ein Spiegelbild, das die Spiegelreflexkamera korrigiert. Sie spiegelt den Abdruck des Motivs. Wenn ich wiederum ein Foto auf ein T-Shirt drucke, muss ich es vorher spiegeln, da es beim Druck widergespiegelt wird.

Wenn ich mein Spiegelbild mit einem Spiegel spiegle, sehe ich mich, wie die anderen mich sehen. Wem das zu kompliziert ist, höre sich Mani Matters Lied «bim Coiffeur» an.

herzlichst
barbara esther

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