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Frühstück im Hotel
Der Morgen ist zu schnell gekommen. Sie wühlt sich aus den Laken, streckt sich, kuschelt sich ein letztes Mal ins Mal ins warme Weich und steht dann mit einem Ruck auf. Hotelgeräusche. Der Zimmernachbar duscht, in der Küche zwei Stockwerk tiefer klappert die Töpfe, draussen scheppert die Müllabfuhr. Minuten später verlässt sie ihr Zimmer, übt auf der Treppe ein Lächeln und geht dem Stimmengewirr tapfer entgegen. Die Energie des Abends ist noch nicht wieder da. Sie verlangt erstmal einen Kaffee und sucht sich am grossen Tisch einen Platz ohne Nachbarn. Schwierig, jemand schaut sie erwartungsvoll an, sie senkt den Blick, sie weiss, am Morgen ist sie unhöflich bis arrogant. Sie wird es tagsüber zurechtbiegen. Sie kennt die Leute am Tisch. Sie alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie kennen sich nicht, sind aber eine Woche lang eine Gemeinschaft mit demselben Ziel: Ihre Angst vor dem Singen zu verlieren. Das geht viel besser, wenn man die anderen noch nie gesehen hat und nie wieder sehen wird.
Sie löffelt den Schaum vom Cappuccino, lächelt zaghaft in sich hinein. Der kleine Dürre am anderen Tischende spricht ohne Punkt und Komma, sein Bass trifft ihren Magen empfindlich. Sein Teller, beladen mit Fleisch, Käse und Croissants wird nicht weniger. Seine Tischnachbarin ist eine höfliche Person. Sie nickt und nippt an ihrem Tee. Im Chor zu Hause, sagt er gerade, sei er immer unsichtbar, werde zwischen den anderen Bässen, massig wie Bären, eingeklemmt. Ja dass er Bass sei, nimmt ihm niemand ab, weil er so dünn sei. Kannst du dir die Monserrat Caballé dünn und klein vorstellen? Die höfliche Tischnachbarin verschluckt sich, sucht ein Taschentuch, schnäuzt sich. Nun mischt sich der Nachbar auf der anderen Seite ein. Bist du hier, um dir Volumen anzufressen? Er will Humor beweisen. Er ist Tenor und ein alternder Beau. Der dürre Bass beisst leicht irritiert ins Croissant.
Am anderen Tischende löffelt sie ihr Müesli, wacht langsam auf, froh nur beobachten zu dürfen. Ein Anflug von Vergnügtheit blitzt in ihren Augen auf.
Drei Stühle weiter strecken zwei Frauen die Köpfe zusammen. Die ältere ist Lehrerin, soviel weiss sie schon. Die andere ist pensioniert, ihr Mann, jünger, viel auf Reisen. Sie ist hier, um sich etwas zu gönnen. Weisst du, sagt die Lehrerin gerade, singen ist auch politisch, denk nur an die Marseillaise, die aus diesen Tönen drängt. Die Pensionierte blickt unsicher. Du bist doch auch politisch interessiert, fährt die andere fort. Die erste zuckt die Schultern. Nun ja…, die andere lässt sie nicht ausreden: Es ist ganz einfach. Zum Beispiel, sag mir, wo auf der Skala von ganz links bis ganz rechts stehst du? Die Lehrerin blickt die Pensionierte erwartungsvoll an. Diese rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, weiss, dass sie etwas sagen muss. Nun, so einfach ist das nicht, kommt darauf an…, setzt sie an. Aber du musst doch eine Meinung haben, sagt die Lehrerin. Ich zum Beispiel bin konservativ. Einem Staat geht es nur gut, wenn die Wirtschaft schnurrt. Dafür musst du rechts sein oder wie ich immer sage, das Herz auf dem rechten Fleck haben.
Am anderen Tischende ist ihr das Vergnügen aus den Augen gerutscht. Sie steht auf. Will noch Zähne putzen. Singen mit Mundgeruch geht gar nicht. Auf der Treppe summt sie die Marseillaise. Das Vergnügen ist zurück. Linker Fuss, rechter Fuss steigt sie zu ihrem Zimmer hinauf. Es lebe die Revolution.
Bergeller Tage
Ist man einem Ort zugetan, kann er nichts falsch machen. Weder Regen noch Nebel hindern mich daran meine fremde Heimat zu erkunden. Sie kennen dieses Gefühl von Vertrautheit an einem neuen Ort. Das gibt es auch mit Menschen. Die Verbundenheit ist da, das Herz geht auf. Und ist es einmal offen, saugt es sich voll, wie ein Schwamm, zieht alles an, wie ein Magnet und lässt sich ganz leicht füllen.
Da ist Irma, die ich nicht kenne und die ganz selbstverständlich sagt, komm vorbei, wenn du zurückkommst. Ein paar Strassen weiter plaudere ich mit der Bäckersfrau auf Italienisch und freue mich am Klang unserer Stimmen. Buona giornata, arrividerci, eine Sprache wie ein Lied. Gekauft habe ich nebst der Torta di noci eine Postkarte. Schon vergilbt, wer weiss, wie lange sie schon im Ständer steckte. Varlin steht hinten drauf und abgebildet in schwarz-weiss ein Mann mit wirrem weissem Haar, einem Stumpen im Mund, einen eben vollendeten Brief lesend. die Aufnahme datiert von 1972. Zurück in meinem Zimmer bin ich neugierig. Google hilft. Varlin ist 1900 als Willy Guggenheim in Zürich geboren. Er war Kunstmaler, heiratete eine Bergellerin und lebte in Bondo. Er muss eine aussergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein. Ich schaue mir seine Website an. Sein Bild, die Leute meines Dorfes, lässt mich nicht mehr los. Die Seite Varlin über Varlin ist höchstes Amusement.
Und dann fand ich in der Bäckerei im letzten Moment ein Buch von David Weber. Dieser lebt in Zug und im Bergell. Der Buchtitel, der Beginn einer Beziehung. Sie wissen, was kommt, ja ich habe das Buch gekauft. Meine Beziehung zum Bergell hat längst begonnen.
Und sie geht weiter.
Emma und ich
Hier stehe ich und Emma steht vor mir. Jeden Morgen, jeden Nachmittag und jeden Abend drückt sie mich und schaut dann ganz gespannt, wen ich ihr diesmal ins Haus bringe. Gestern zum Beispiel, da erschien ein Lächeln auf ihren Lippen, sie machte gar ein paar angedeutete Tanzschritte. Normalerweise ist Emma ernst und geschäftig. Gestern also, da lächelte sie. Bruce Springsteen «Jersey girl», zauberte das Lächeln auf ihr Gesicht. Emma lässt mich immer laufen, wenn sie daheim ist. Auch wenn ich sie nicht sehe. Manchmal nimmt sie mich in den Arm und trägt mich mit sich. Wenn gerade etwas Spannendes aus mir hervorquillt. Nicht unbedingt ein Lied, Lieder dreht sie nur laut auf, oder, wenn es ganz schlimm ist, drückt sie mich weg. Rap zum Beispiel, kann sie nicht ausstehen. Deshalb hat sie mich schon umprogrammiert, von SRF 3 auf SRF 1.
Also, beim Mitnehmen bin ich stehengeblieben. Das macht sie eher bei Gesprächen, Nachrichten, Hörspielen, Interviews. Dann hält sie manchmal inne, bei dem, was sie tut und ich habe ausnahmsweise ihre ganze Aufmerksamkeit. Dann nickt sie mir zu oder schüttelt den Kopf. Es ist schön, dass ich manchmal Emmas ganze Aufmerksamkeit habe. Auch wenn ich weiss, dass es nicht an mir liegt, nur an dem, was aus mir rauskommt und dafür kann ich ja eigentlich nichts. Dass sie mich mag, sehe ich aber daran, dass sie mich gekauft hat und nicht irgendeinen meiner Kollegen. Ich bin klein und handlich und rosa. Nur eines fehlt mir. Sie drückt mich zwar mehrmals täglich, aber abstauben, das könnte sie mich schon einmal.
(Der Anfang dieses Textes wurde in der Sendung Treffpunkt von SRF 1, kreatives Schreiben, Montag, 15. April 2024 um 10.41 h gesendet.)
herbstlich bis winterlich
Sommervögelchen
so flatterhaft, unfassbar.
Herzerweichend froh.
Wolken aus Westen
tanzen schaurig farbenfroh
und endlich Regen.
Fliegen flatternd fort.
Sommer sonnt sich anderswo.
Frieren tun nur wir.
Herbst bedeckt das Land
Sommerlachen verklungen
vom Nebel verschluckt.
Sonne im Nebel
die Blätter fallen lautlos
verbreiten Wehmut.
Herbstwind farbenfroh
weit weg die dunklen Tage.
Lufttrunken feiern.
Die Reise
Wie immer, wenn sie verreist, hat sie ein leeres Heft dabei. Der Zug rattert. Es ist Seniorenreisezeit, nach neun Uhr morgens. Es ist Montag, ein grauer, nasser Montag im Herbst. Neben ihr blättert eine ältere Dame durch ihr Handy. Ältere Damen machen das heute. Auch sie ist eine ältere Dame. Eigentlich hasst sie dieses Wort. Sie fragt sich eher, ob sie alt ist. Älter ist so relativ. Die 15-jährige spricht ab 30 von älteren Damen und Herren. Eine alte Frau tönt ehrlicher, findet sie, schöner, ist Realität. Da kann sie sich etwas vorstellen. Sie sieht die Menschen an, die neben, vor und hinter ihr im Zug sitzen. Wer ist ein älterer Herr, wer eine alte Frau? Es sind auch alte Ehepaare unterwegs. Alt an Ehejahren. Die Marken der Schuhe und Jacken sind dieselben. Beim Mann dezent in blau oder grau, bei der Frau darf es rosa oder bordeaux sein.
Sie wechselt den Zug. Bitte schnell umsteigen, heisst es, eine technische Störung hat zu Verspätung geführt. Im neuen Zug hat es weniger Leute, aber immer noch Seniorinnen mit weissem Haar und Senioren mit Glatze. Sie liest ein Buch. Draussen ist es immer noch grau und nass. Später steigt sie noch einmal um. Ein neuer Zug, ein roter nun. Die Landschaft ist Wasser, See, Sumpf, Bach. Tropfen rinnen über die Scheibe. Sie legt das Buch weg. Sucht die Landschaft im Grau, nach Wiedererkennbarem. Und dann sieht sie oben am Berg das Kloster. Als Kind war sie da. Bei den Nonnen. Schwester Veronika wachte über die Gruppe Mädels. Alterslos, mit schwarzer Haube. Ihre Mutter verehrte sie, ihr Vater nannte sie Schleiereule.
Im Zug an einen Ort, an den sie nicht gehen muss, an den sie trotzdem geht, hat sie Zeit. Zeit Erinnerungen nachzuhängen, Zeit jenseits der Zeit, in der alles fliesst.
Die letzte Strecke dann, fährt sie im Postauto. Es ist die überraschendste, die lustigste. Seen im Regen, blasses blau, am Ufer Lärchen in frechem Orange. Sie fotografiert die Schlieren an der Scheibe, die der Regen hinterlässt. Schaut fasziniert auf die Muster, die sich mit den blassblauen und orangen Flecken im Hintergrund ergeben.
Dann weit hinten im Tal, wo sie denkt, nun geht es hinauf auf den Pass, bevor sie ans Ziel gelangt, fährt das Postauto bergab, Kurve um Kurve. Hinunter ins Tal, Richtung Italien, Richtung Meer. Ihr Herz hüpft. Ihre Reise ist keine Sackgasse, hier am Ende der Welt, ist ein Ausgang in Sicht. Sie steigt aus, es ist immer noch grau und nass, aber sie lächelt. Sie wird ihr Heft füllen.
müde
Sie mag nicht. Sie gähnt. Langweilt es sie, möchte sie lieber draussen Sonnenstrahlen fangen oder Regentropfen zählen? Sie mag nicht. Nur heute nicht? Sie gähnt, es ist kalt hier drinnen in der Stube. Sie könnte sich hinlegen, zudecken, schlafen. Aber es ist mitten am Tag, sie will keine Zeit vergeuden. Und doch bleibt es ein Tag, an dem sie nicht mag. Weder Sonnenstrahlen fangen noch Regentropfen zählen. Sie gähnt wieder. Sich hinlegen, wäre doch eine Option.
Wal
Wald
Nichts, leer, weg, verpufft.
Nicht einmal Erinnerung.
Nur der Wal war da.
Auf dem Weg zum Meer,
Glück einfangen, Lebenslust.
Es kam ganz anders.
Begegnung im Meer.
Zufall, Laune der Natur.
Ein Wal unterwegs.
Blauer Tag im Meer
wird nie mehr wiederkommen.
Nur bleiben in mir.
Mein Ich verloren
im Wellental des Meeres
Strandgut der Zukunft.
Spielen verstecken
im sommerlichen Gehölz.
Tanz und Balz im Wald.
Unter Tannen und
über Wipfeln nur Sommer.
Es feiert der Wald.
Gewimmel im Wald
Flimmerndes Licht, im Geäst
allerhand Getier.
Kinderspiel im Wald.
Sonnenstrahl auf Nasenspitz.
Erinnerungen.
Sommervögelchen
so flatterhaft, unfassbar.
Herzerweichend froh.
Glockenblumenblatt
Sonnenschein statt Morgentau
Waldwiesenzauber.
warten auf Neujahr
Eine heile Welt,
wenn am Baum Kerzen leuchten.
Illusionen.
Erwartungsschwanger.
Glockenklang zum neuen Jahr.
Herzschlag gemeinsam.
im Nichts
Nebel füllt das Land.
Im Morgenlicht dampft der See.
Kein Horizont mehr.
Wintersturm
Glückliche Tage
an der aufgewühlten See
Sturm fegt Seele frei.
kleine Gedanken
Solange ich die
Wahl habe, folge ich dem
Weg meines Herzens.
Nur Wellen, kein Strand,
kein Leuchtturm, kein Stern, nur Nacht.
Sehnsucht ankommen.
Echo verklungen,
kein Ticken mehr von der Uhr.
Der Puls beschleunigt.
Herbst bedeckt das Land
Sommerlachen erloschen
Nebel bringt Stille.
Sonne im Nebel
die Blätter fallen lautlos
verbreiten Wehmut.
Corona
Die Welt ist in meinen Kopf gewandert.
Sie steht nicht still.
Sie ist nur eine andere geworden.
Unsere Sprache hat keine Worte für diese Zeit. Shutdown, Lockdown, social distancing, homeoffice. Ein Virus überzieht den Globus von Ost nach West. Verunsicherung, Angst, Tod breiten sich aus. Risikogruppen werden verbannt, systemrelevanten Berufen wird applaudiert, die brotlosen Kreativen werden noch brotloser und noch kreativer. Ob Phönix aus der Asche steigt oder die Apokalypse droht, weiss heute keiner. Die Digitalisierung macht endlich Sinn, die Globalisierung nicht mehr. Der Weg führt nach innen, die Zeit steht nicht still.
Das Grün quillt aus den Bäumen, die Katze räkelt sich im warmen Sonnenstrahl. Ihr Mensch steht am Fenster, wartet auf den Briefträger und den Lieferdienst. Der Milan zieht seine Kreise über dem Vorstadtgarten, der Wind kräuselt den See. Idylle der Natur, ganz ohne Mensch. Der Briefträger brachte keinen Brief, der Lieferdienst kommt erst morgen. Vielleicht klingelt noch das Telefon oder bellt der Nachbarhund. Irgendwoher ein Laut, der den Schrei in meinem Kopf übertönt.
Das letzte Fenster geputzt, das kleinste Stäubchen gewischt, die Zeitung gelesen, die Katze gefüttert, den Gummibaum gegossen, die Haare gewaschen, vom Blau des Meeres geträumt. Die Zeit ist vergangen, aber nicht alle Zeit ist vergangen, nicht genug Zeit ist vergangen. Es wird dauern, niemand weiss wie lange bis ich ins Blau des Meeres eintauchen und aufatmen kann.
ein Anfang
Neuer Horizont
am Anfang einer Reise
kein Zaudern nur Glück.
Ein Segel so weiss
wie ein leeres Blatt Papier
der Wind erst beschreibts.