Wie immer, wenn sie verreist, hat sie ein leeres Heft dabei. Der Zug rattert. Es ist Seniorenreisezeit, nach neun Uhr morgens. Es ist Montag, ein grauer, nasser Montag im Herbst. Neben ihr blättert eine ältere Dame durch ihr Handy. Ältere Damen machen das heute. Auch sie ist eine ältere Dame. Eigentlich hasst sie dieses Wort. Sie fragt sich eher, ob sie alt ist. Älter ist so relativ. Die 15-jährige spricht ab 30 von älteren Damen und Herren. Eine alte Frau tönt ehrlicher, findet sie, schöner, ist Realität. Da kann sie sich etwas vorstellen. Sie sieht die Menschen an, die neben, vor und hinter ihr im Zug sitzen. Wer ist ein älterer Herr, wer eine alte Frau? Es sind auch alte Ehepaare unterwegs. Alt an Ehejahren. Die Marken der Schuhe und Jacken sind dieselben. Beim Mann dezent in blau oder grau, bei der Frau darf es rosa oder bordeaux sein.
Sie wechselt den Zug. Bitte schnell umsteigen, heisst es, eine technische Störung hat zu Verspätung geführt. Im neuen Zug hat es weniger Leute, aber immer noch Seniorinnen mit weissem Haar und Senioren mit Glatze. Sie liest ein Buch. Draussen ist es immer noch grau und nass. Später steigt sie noch einmal um. Ein neuer Zug, ein roter nun. Die Landschaft ist Wasser, See, Sumpf, Bach. Tropfen rinnen über die Scheibe. Sie legt das Buch weg. Sucht die Landschaft im Grau, nach Wiedererkennbarem. Und dann sieht sie oben am Berg das Kloster. Als Kind war sie da. Bei den Nonnen. Schwester Veronika wachte über die Gruppe Mädels. Alterslos, mit schwarzer Haube. Ihre Mutter verehrte sie, ihr Vater nannte sie Schleiereule.
Im Zug an einen Ort, an den sie nicht gehen muss, an den sie trotzdem geht, hat sie Zeit. Zeit Erinnerungen nachzuhängen, Zeit jenseits der Zeit, in der alles fliesst.
Die letzte Strecke dann, fährt sie im Postauto. Es ist die überraschendste, die lustigste. Seen im Regen, blasses blau, am Ufer Lärchen in frechem Orange. Sie fotografiert die Schlieren an der Scheibe, die der Regen hinterlässt. Schaut fasziniert auf die Muster, die sich mit den blassblauen und orangen Flecken im Hintergrund ergeben.
Dann weit hinten im Tal, wo sie denkt, nun geht es hinauf auf den Pass, bevor sie ans Ziel gelangt, fährt das Postauto bergab, Kurve um Kurve. Hinunter ins Tal, Richtung Italien, Richtung Meer. Ihr Herz hüpft. Ihre Reise ist keine Sackgasse, hier am Ende der Welt, ist ein Ausgang in Sicht. Sie steigt aus, es ist immer noch grau und nass, aber sie lächelt. Sie wird ihr Heft füllen.