im Zug

Die junge Frau vis-à-vis sieht aus, wie eine echte TikTokInsta-Influencerin. Haarfarbe und Fingernägel sind hingegen nicht echt. Bei der Nase bin ich mir nicht sicher. Die Lippen echt aufgespritzter Schwimmring. Nein, ich will keine Frauen bashen, aber so viel Künstlichkeit hat keine Frau nötig. In den Ohren hat sie die obligaten weissen Stöpsel, in den Händen das Handy. Farblich überwiegt nude. Meine Augen schweifen durch die Abteile des ICN Zürich-Lausanne. Ich sehe niemanden ohne Stöpsel und Handy. Doch, der Jugendliche schräg gegenüber hat keine Stöpsel, dafür grosse schwarze Kopfhörer. Als ich aufstehe, schaut die TikTokInstafrau nicht auf. Sie hat wohl gar nicht bemerkt, dass ihr jemand gegenübersass.

Szenenwechsel: Es ist später Abend, der Zug nur noch vereinzelt besetzt. Am Montagabend geht keine in den Ausgang. Eine junge Frau sitzt in einem Abteil, das Laptop auf dem Schoss, die Stöpsel in den Ohren, die Finger gleiten über die Tasten. Sie scheint konzentriert. Ich sitze im Abteil neben ihrem, mir gegenüber eine Kollegin. Wir sind auf dem Heimweg unserer monatlichen Zusammenkunft in der Hauptstadt. Es war angeregt, wir diskutierten Texte, assen Mitgebrachtes, tranken wenig Wein. Jetzt diskutieren wir weiter, sind entspannt, reden ein wenig über Privates, da wir uns sonst nur in der Gruppe treffen. Die Kollegin ist, soviel ich weiss, 80, knallbunt angezogen und quirlig. Die Zeit verrint, wir merken es nicht. Irgendeinmal steht die junge Frau auf, kommt zu uns herüber. «Ich will Euch nur sagen, ich finde es cool, wie ihr zwei unterwegs seid.» Wir sind verblüfft, rufen ihr, die schon im Gehen ist, danke und ciao hinterher. 

herzlichst
barbara esther

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