Ich könnte spazieren gehen. Eine Freundin anrufen. Den Krimi zu Ende lesen. Wir kennen das alle. Prokrastinieren wird inzwischen so oft gebraucht, dass ich nicht mehr googlen muss, um zu wissen, was es heisst. Ich bin eigentlich besser im präkrastinieren, möchte immer alles sofort erledigt haben. Nur wirklich schwierige Dinge, die quasi weichgekocht werden müssen, schiebe auch ich auf. Aber das wissen wir alle, die wenigsten Dinge erledigen sich von selbst. Irgendeinmal müssen wir ran. Deshalb räume ich jetzt auf. Radikal. Nicht Marie Kondo mässig (diese soll das Aufräumen nach drei Kindern aufgegeben haben), sondern im Kopf. Da wo alles beginnt. Ich brauche Platz zum Umschichten, Ausgraben, Abschieben, Neudenken und Nachdenken.
Die Sonne geht im Osten auf und im Westen unter. Europa liegt dazwischen. Bei uns ist fünf vor zwölf. Wir fragen uns gerade, ob wir dereinst Ostamerika oder Westrussland heissen. Das Armdrücken ist im Gang. Auf das Sesselrücken müssen wir warten. Jetzt geht es um nackte Macht, archaische und patriarchalische. So wie sich die Erde dreht, dreht sich die Geschichte in einer Endlosschlaufe. Manchmal ist der Mensch gut, manchmal böse. Zuviel des Guten lässt das Böse spriessen. Der Mächtige wird mächtiger, nicht weil er darf, sondern weil er kann. Die Guten schauen machtlos zu. Hätten früher aufräumen müssen.
Ich räume auf. Aufräumen gibt ein gutes Gefühl, weil es Kontrolle gibt. Kontrolle gibt Sicherheit und Sicherheit gibt Selbstvertrauen. Bevor ich mit Aufräumen fertig bin, lege ich mein Bauchgefühl in die oberste Schublade. Der Kopf weiss, was ich kann, der Bauch weiss, was ich darf.
herzlichst
barbara esther
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