«Haben Sie eine gute Beziehung zum Spiegel?» Die Frage kehrt jede Woche in einer Interviewrubrik der NZZ am Sonntag wieder. Eigentlich lautet sie: «Haben Sie eine gute Beziehung zu sich?» Der Spiegel kann ja nichts dafür, wie ich aussehe, er wirft mir mein Bild zurück, ob es ihm gefällt oder nicht. Ich entscheide über Lächeln oder Grimasse. Psychoanalyse beim Zähneputzen.
Spiegel haben etwas Magisches. Wer sich darin erkennt, ist intelligent. Primaten und Delfine können das. Auch Elstern sollen sich erkennen. In Klöstern sollen Spiegel verboten sein, um Eitelkeit vorzubeugen. Und in Totenzimmern werden sie verhängt, damit sich die Seelen nicht darin verirren und ewig durch die Räume geistern.
Die ersten Spiegel waren Wasseroberflächen. Für mich unvergessen, die Geschichte von Narziss. Er ist ertrunken, weil er sich in sein Spiegelbild verliebt und zu weit vorgebeugt haben soll. Diesen Text des römischen Dichters Ovid zu übersetzen war meine Höchstleistung in Latein. Spiegel sei Dank, habe ich die Matur bestanden.
Spiegel können uns auch belügen. Der Wandspiegel in unserem Tanzsaal macht das gekonnt. Je nach Standort bin ich schlank und gross, oder klein und pummelig. Und Spiegel bilden verkehrt ab. Wenn ich vor dem Spiegel mit rechts Zähne putze, sieht es aus wie mit links. Wenn ich dabei mein T-Shirt mit dem spiegelverkehrten Druck trage, erscheint die Schrift richtig. Der Druck auf dem T-Shirt ist spiegelverkehrt, weil ich einen Gullideckel mit Farbe beschmiert und das T-Shirt draufgedrückt habe. Ein Abdruck ist ein Spiegelbild, das die Spiegelreflexkamera korrigiert. Sie spiegelt den Abdruck des Motivs. Wenn ich wiederum ein Foto auf ein T-Shirt drucke, muss ich es vorher spiegeln, da es beim Druck widergespiegelt wird.
Wenn ich mein Spiegelbild mit einem Spiegel spiegle, sehe ich mich, wie die anderen mich sehen. Wem das zu kompliziert ist, höre sich Mani Matters Lied «bim Coiffeur» an.
herzlichst
barbara esther
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