Die Wachtel

Tafelrunde. Der letzte Abend unserer Reise. Der Hauptgang wird aufgetragen. Da liegt sie vor mir auf dem Teller. Auf einem weichen, weissen Beet Risotto. Das pralle Bäuchlein zart gebraten, die Beinchen leicht gespreizt, als wollten sie gleich strampeln. Da, wo das Köpfchen sässe, liegt ein Tomätchen. Zum Glück, sonst würden noch die Äuglein starren. Ich kann nicht wegschauen, aber auch nicht hinsehen, fühle mich wie schockgefroren. Kann, darf man das essen?

Ich werde jetzt nicht über nachhaltiges, klimawandeladäquates Essen schreiben. Auch nicht über Tierwohl. Jedes Lebewesen hat seinen Platz in der Nahrungskette. Fressen und gefressen werden. Der Mensch nur, übertreibt allenthalben, kennt die Grenzen nicht. Die Wachtel erinnert mich an eine Reise vor Jahren nach La Gomera. Auf der Speisekarte in einem Restaurant in San Sebastian stand: «Babyoktopusse in ihrer eigenen Tinte» – um sie auf der Zunge zergehen zu lassen? Wird sie dann schwarz? Mir wächst Gänsehaut.

Was mache ich nun mit meiner Wachtel? Die Tischnachbarin rechts vermeidet den Blick, ist Vegetarierin, schaufelt Quinoa. Der Tischnachbar links schweigt diplomatisch und isst, sein Nachbar ebenso und dessen Nachbar dasselbe. Ich entschliesse mich schliesslich um der Würde der Wachtel willen, sie nicht zu verschmähen und ihrer Bestimmung zuzuführen. Ich reisse die Beinchen aus und stecke die Gabel ins pralle, zart gebratene Bäuchlein.

herzlichst
barbara esther

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