Ich fahre nicht oft Zug. Früher war das anders. Ich fuhr jeden Tag aufs Gymnasium. Wir waren zu viert, alle Mädchen. Eine stand immer genau am richtigen Ort, um als erste einzusteigen und uns ein Abteil zu sichern. Dann setzten wir uns hin und jassten oder strickten. Jassen war am längsten Trumpf. Die anderen Passagiere lasen Zeitung oder dösten, oder rauchten, das gab es damals noch.
Heute ist vieles anders, nicht nur, dass es nur noch Nichtraucherwagen gibt. Die Passagiere haben Stöpsel in den Ohren und Smartphones vor der Nase. Ich bin die einzige mit einem Buch. Sogar heute, wo viele Literatinnen oder Bücherleser im Zug sitzen. Ich bin unterwegs an die Literaturtage. Bald sind wir da. Ich reihe mich hinter den Wartenden ein. Im Abteil vor der Tür auf der linken Seite stehen zwei abgenützte Überseekoffer mit Aufklebern. Daneben ein grosser Haufen Kleider. Bei genauerem Hinsehen ist es ein Mensch in einem Haufen Kleider, den Kopf unter einer Kapuze vergraben, ein Bild völliger Erschöpfung. Er muss vom Flughafen kommen, Switzerland in ten days oder so. Sieht nicht nach dem grossen Vergnügen aus.
Auch im Abteil rechts vor der Tür ist jemand nicht ansprechbar. Ein Mann in Sportausrüstung zwängt sich in seinen überdimensionalen Rucksack. Er will der Frau, die gegenübersitzt, etwas sagen. Sie reagiert nicht. Der Mann versucht es wieder. Es ist ihm ein Anliegen. Er wird sich gleich in einen zum Bersten vollen Bus stopfen lassen, um auf den Berg gefahren zu werden, von dem er mit dem Gleitschirm wieder runterfliegt. Der Zug steht still, der Mann ruft der Frau noch im sich Umdrehen etwas zu, steigt dann aus. Ich sehe im Vorübergehen die weissen Stöpsel in den Ohren der Frau. Alles an ihr ist Stöpsel, sie versinkt in ihren Stöpseln.
Ich steige auch aus, laufe am Bus der Gleitschirmflieger vorbei und gehe meinerseits den Dichtenden entgegen. Denkt der Gleitschirmflieger aus dem Zug noch an die Frau, wenn er in der Luft ist? Was, wenn er abstürzte, ohne der Frau gesagt haben zu können, was ihm so drängend schien? Die Frau erführe es nie, wüsste nicht einmal, dass es jemanden gab, der ihr etwas hätte sagen wollen.
Aber vielleicht war alles ganz anders.
herzlichst
barbara esther
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