Sattsehen

Ich weiss jetzt, wo das Blau erfunden wurde. Auf dieser kleinen Insel im Meer, wo die Felsen zerklüftet und löchrig geworden, sich gegen den Sog dieses unendlichen Blaus stemmen. Nirgend wo sonst, gibt es so viele Blau. Schon bei meinem ersten Besuch auf dieser Insel fiel mir die Farbe des Meeres auf. Wir lagen im Hafen, warteten auf ein Zeitfenster zum Auslaufen. Dann, am Morgen des Aufbruchs undurchdringliche See, vom schwärzesten Blau, das ich je…

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Zeitreise

An dein Gesicht erinnere ich mich. An deinen Namen nicht. Du musst mir helfen. Klar, genau. Wo wohnst Du? Hast Du Familie? Was arbeitest Du? Das ist schön, bzw. das tut mir leid. Geschieden? Ich auch. Deine Mutter ist gestorben? Meine auch. Ich nippe am Glas, blicke mich um. Gut angezogen sind sie, fast herausgeputzt. Schlank geblieben auch. Die Haare grau statt braun. Prüfende Seitenblicke hier und da. Vorsichtiges Herantasten. Ein paar Grüppchen, dieselben wie…

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Recht auf Reisen

Beim Durchblättern einer juristischen Zeitschrift bleiben die Worte «Recht auf Reisen» hängen. Eine Buchbesprechung, die ich vorerst nicht weiter beachte. Ausgedörrt von der pandemiebedingten Meerabstinenz, lechzend nach Wellenrauschen, Wind im Haar und Salz auf der Haut, fragt sich mein Juristinnenverstand, ob das Recht auf Reisen Menschenrecht ist. Antwort: Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt jedem Menschen das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie jedes…

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Die Flohschachtel

Andere Zeiten andere Bräuche. Oder des Sonnenkönigs Schattenseiten. Davon erfahren habe ich im Italienischunterricht. Meine Lehrerin hat einen Wunsch: Durch Versailles Gärten und Säle flanieren, gekleidet wie einst Marie-Antoinette. In Schichten feinster wallender Stoffe. Aber damit hat es sich auch schon. Die Schattenseiten will niemand wiederaufleben lassen. Ist das reinste Gruselkabinett. Puder und Parfum statt Seife und Wasser, Stöckelschuhe damit man nicht in die Scheisse tritt.Die Geschichte von der «scatola delle pulci», der Flohschachtel, gefällt…

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Black-out

Ich kann das. Passwörter behalten. Zahlen, Buchstaben, Kombinationen. Verschiedene, versteht sich. Für jede Karte, für jeden Account und jedes Konto ein anderes. Ohne aufzuschreiben. Wird etwas geklaut oder gehackt, ist das Schadensbegrenzung. Datensicherheit nennt man das. Seit Jahren rufe ich eine Seite auf, gebe das Passwort ein und Sesam öffnet sich. Kürzlich wollte ich rasch eine Zahlung machen. Bank.ch, login und nichts passiert. Statt Automatismus Synapsengau in meinem Hirn. Rien ne vas plus. Black-out. Nach…

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crescendo

Mit Musik kann ich nicht so gut. Beim Vorsingen in der Schule gabs erst Tränen, und dann eine 4. Meine Gspänli mögen sich erinnern, ich lieber nicht. Es hat mich geprägt. Heute denke ich manchmal, vielleicht lerne ich doch noch einmal singen. Ganz allein bei einer Operndiva im Ruhestand. Denn die Zeiten mit der Pfadi am Lagerfeuer lassen mich melancholisch werden. «Wir lagen vor Madagaskar…» oder «an den Ufern des Mexico Rivers» und hatten «Wind…

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Vakuum

Letze Woche ist es mir tatsächlich passiert. Ich wollte jemandem die Hand geben. Ein Kollege stellt mir seinen Freund vor. Spontan strecke ich die Rechte aus, um sie gleich darauf schuldbewusst zurückzuziehen und zu stammeln: «soll auch so gelten». Man hat sich daran gewöhnt, ans Nichtberühren, steht stattdessen unbeholfen da oder schubst sich mit dem Ellbogen. «Fühle dich umarmt», sag ich manchmal. Ich bin ja froh nicht mehr creti und pleti mit Luftküsschen umhüllen zu…

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eine Mütze in Biel

Etwas mehr als ein Jahr ist es her. Wir nahmen ihn mit dem Auto mit nach Biel, wo er auf den Zug nach Hause umstieg. Im Oberland hatten wir das Fest einer gemeinsamen Freundin besucht. Die Mitfahrgelegenheit ergab sich zufällig. Wir kannten uns nicht. Es war Winter und als ich aus dem Auto stieg, fiel mein Blick auf eine schwarze Wollmütze auf dem Rücksitz. Sein Zug war längst abgefahren, die Mütze liegengelassen, zurückgelassen. Ich musste…

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Vollbrand

«Jeder Mensch sollte etwas haben, wofür er brennt», sagt mir neulich eine Freundin. In der Tretmühle des Alltags hat, die an sich pyromanisch veranlagte, die Zündhölzer verloren. Von Dunkelheit und Kälte umgeben, wächst der Traum vom Feuer. Brennen ist Freude, Begeisterung, Lust. Brennen bewegt die Seele, berührt das Herz, kanalisiert die Sinne. Wer brennt, sehnt, leidet, geniesst. Wer brennt, lebt.Zur gleichen Zeit sitze ich mit Tunnelblick am Bildschirm, begierig auf das nächste Update. Seit über…

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Kleine Intimitäten

Wie halten sich Frauen wie ich, die weder Kälte, Schnee noch Skis etwas abgewinnen können, bei Laune? Sie sitzen vor dem Kaminfeuer, Katze auf dem Schoss, ein Glas Rotwein in der Hand und suchen den Sinn des Lebens, sie lümmeln sich auf dem Sofa und schauen zum gefühlt tausendsten Mal «dirty dancing» oder sie liegen unter der Decke und arbeiten die zwei Meter Bücher neben dem Bett ab. Spätestens wenn die Fingernägel, beim Versuch den…

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Requiem für ein Spaghetti

Abschied. Voraussehbar, nicht traurig, etwas wehmütig. In 25 langen Jahren von der Gewohnheit zum Ritual. Gewohnheiten betten ein, stabilisieren, geben Sicherheit. Gewohnheiten vereinfachen, beschränken, verhindern. Es gilt das Momentum zu erwischen, auf der Kippe zu schubsen, sich der Leere zu stellen. Gewohnheit als treue Begleiterin, wichtiger Inhalt. Ich bin nicht undankbar, ich bedanke mich mit einem Requiem.Es war Oktober 1995 als ich allein in meiner kleinen Zweizimmerwohnung im Berner Murifeld festsass und den Ausbruch plante.…

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Zeit zu tanzen

Wenn der Herbst nicht gar so bunt ist, die Grenzen nicht allzu weit offenstehen und der Nebel die Sicht versperrt, ist es Zeit tanzen zu lernen. Vor Jahren besuchte ich das Chocolate Café im schottischen Oban. Da stand gross an die Wand geschrieben: «Warte nicht bis der Sturm vorüberzieht, lerne im Regen zu tanzen». Der Satz ist mir seither öfter begegnet, wer ihn «erfunden hat», ist nicht ganz klar. Ich sehe vor meinem geistigen Auge…

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