«Es» macht ratlos

Ich habe es gekauft. Das Buch, das mindestens drei Preise gewonnen hat, und das von einem Menschen geschrieben wurde. Nicht von einer Frau und nicht von einem Mann. Unsere Sprache kennt die Personalpronomen sie, er, es. Kim de l'Horizon, der Mensch, der dieses Buch geschrieben hat und weder Mann noch Frau ist, ist aber auch kein es. Das sagt Mensch ausdrücklich auf Seite 17, rechts unten in Blutbuch. Wäre Mensch ein es, wäre er ein…

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ganz bei Ihnen

«Da bin ich ganz bei Ihnen», sagt der Kunde am Telefon. Instinktiv halte ich den Telefonhörer ein wenig von mir weg. Um Himmelswillen, er kann meine Meinung teilen, mit mir einig sein, mir Recht geben. Aber alles, was Recht ist, ganz bei mir will ich den fremden Mann nicht haben.Ich habe die Redewendung dieses Jahr erstmals gehört, immer im beruflichen Umfeld. Wenn mich eine Freundin trösten will, wenn ich weine, wenn sie bei mir sein…

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Der Ring

Plötzlich bemerke ich es. Der Ring ist weg. Und damit meine Ruhe. Der schmale vergoldete Reif, der zusammen mit dem schmalen silbernen Reif auf meinem Finger sitzt. Seit vier Monaten. Ich habe sie beide auf Santa Maria gekauft, bei Catherine, der Amerikanerin, die dort wohnt und Schmuckstücke herstellt. Ihr Freund ist Shaper und Surfer. Zusammen suchen sie auch Plastikmüll am Strand und manchmal macht Catherine ein Schmuckstück daraus. Ich habe mir die Ringe zur Erinnerung…

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Die Welt gehört mir

Es ist Herbst geworden. Der Regen trommelt auf das Dach des Buses. Eine Handvoll Schüler steigt ein und setzt sich auf die Rückbank. Die Buben sind trotz der frühen Stunde aufgeweckt. Im Gegensatz zu mir. Ich lehne mich ins Polster und schaue den herabrinnenden Tropfen am Fenster zu.Da ertönt eine helle überzeugte Stimme hinter mir: «Die Welt gehört mir.» Das ist eine Ansage an einem der ersten trüben Herbstmorgen auf dem Schulweg. Der Bub ist…

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Schiffe anbinden

Mit dem Auto fahre ich in eine Parklücke, steige aus und gehe davon. Mit dem Schiff ist das anders. Wind, Wellen und Strömung lassen es schaukeln und schwojen. Ich muss es anbinden. Mit zwei bis fünf Tauen und Seemannsknoten. Einen Mastwurf, einen Palsteck und eine Klampe belegen, muss ich können. Eine gute Skipperin kann allein anlegen. Sie muss vorbereitet sein und wissen, was, wo, in welcher Reihenfolge gemacht werden muss. Zu zweit geht es nicht…

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schneller warten

Warten ist unangenehm, unerträglich und für ungeduldige Menschen eine besondere Herausforderung. Die Wartende meint, Zeit zu vergeuden, Pause vom Leben zu machen. Es vergeht Zeit, die sie eigentlich schon in der Zukunft verbringen möchte. Es wird ihr gewissermassen die Zukunft geklaut.Ich bin ungeduldig und ich stehe immer an der Schlange an, an der ich am längsten warten muss. Warten hat mit Zeit zu tun. Zeit ist relativ, das wissen wir spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie.  Wie…

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Der Wal

Es gibt Dinge, die passieren nur den anderen – bis du selbst zu den anderen gehörst. Wir sind in Seenot geraten und haben einen Schutzengel gehabt. Warum wir, und warum hatten wir so viel Glück? Diese Fragen treiben mich um, wollen mir den Schlaf rauben. Das im-Kreis-denken anhalten, die Dinge, die passiert sind, einfach stehen lassen, sagen, es ist, wie es ist. Punkt. – Schwierig.Vielleicht waren wir nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Um…

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Helden braucht der Mensch

Jetzt werden wieder Helden geboren. Nicht auf dem Schlachtfeld, in unseren Köpfen. Helden sind all das, was wir nicht sind. Sie sind mutig und tapfer, sie kennen ihren Weg und verteidigen ihr Ziel, um jeden Preis. Sie sind erfolgreich, auch wenn sie dafür sterben. Helden retten die Welt, kämpfen und beschützen. Sie sind schön und stark, sie geben Hoffnung und lassen träumen. Helden wurden und werden aus Kriegen geboren. Dem Unaussprechlichsten, Hässlichsten, Schmerzlichsten wird das…

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Erwachen

Tage, an denen der Wecker nicht schellt, sind bessere Tage. Jedenfalls beginnen sie besser. Nicht nur, weil es freie Tage, Feiertage, Ferien oder Wochenenden sind. Sie lassen ein bisschen Freiheit und Selbstbestimmung. Kein Programm, kein Protokoll geben das Tempo vor. Ich tauche langsam aus Traumtiefen oder traumlosem Tiefschlaf. Ein Sonnenstrahl, Regentropfen auf dem Dachfenster, ein Vogelruf, das Miau meiner hungrigen Katze – langsam dringt das Leben in mein Bewusstsein. Doch ich bin noch nicht bereit.…

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wahrer Luxus

Champagner? Man gönnt sich ja sonst nichts. Kaviar? Mag ich nicht. Karibik oder Kapverden? Qual der Wahl, irgendwo muss man die Ferien ja verbringen. Grösser, teurer, angesagter – ist definitiv nicht mein Verständnis von Luxus. Luxus ist nicht die Rolex am Arm, sondern ein überwältigendes Gefühl tief in der Brust. Ich habe es erlebt:Ich schlage die Augen auf, ich hänge am Tropf, liege unter einer weissen Decke in einem sterilen Zimmer. Ich bekomme kaum Luft,…

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ein Kleid für eine ältere Dame

Kürzlich in La-Chaux-de-Fonds sehe ich ein Kleid in der Auslage. So eines, dem man nicht widerstehen kann, so ein Mussichhabending. Gleich darauf stehe ich im Laden und suche das Kleid. Eine ältere Dame fragt, ob sie mir helfen kann. Klar, ich will dieses Kleid. Sie nimmt es aus dem Ständer, ich probiere es an, sie packt es ein. Während das Seidenpapier raschelt, sagt sie zu mir: «Dieses Kleid kann man gut auch dann tragen, wenn…

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ein leeres Blatt Papier

Vielversprechend, alles möglich, Platz bis zum Horizont, Zeit ohne Ende. Ein leeres Blatt Papier, ein Tag ohne Agenda, der Vorabend der Ferien, der Glockenschlag ins neue Jahr. Hoffen, träumen, freuen, atmen. Der Beginn von etwas Neuem bewegt. Ob ein neues Buch oder nur ein neues Kapitel, Hauptsache Aufbruch. Mein Lebensbuch ist zu dick, um es wegzulegen. Aber die Seite umdrehen, ein neues Kapitel beginnen, alles anders machen, alles besser machen, alles weitermachen, alles stehen lassen?…

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